Reisebericht 39 vom 29.01.08 – 26.02.08: Leben am Fluss in Patagonien


Route: Rio Futaleufú – Trevelin – Esquel – NP Los Alerces – Cholila – El Bolsón – El Maitén – Norquinco – Pichi Leufú – Confluencia – Villa Traful – Rio Pichi Traful – San Martin de los Andes – Lago Lolog – Lago Currehue – Junin de los Andes – Paso Tromén – Zapala – Lago Aluminé – Paso Icalma – Lago Norquinco – Aluminé – NP Laguna Blanca – Zapala – Las Lajas – Caviahue – Copahue – El Chocal – Chos Malal


Sommer in Argentinien. Die Menschen fliehen vor der großen Hitze im Norden des Landes und an der Küste in die kühleren Bergregionen. Sie flüchten sich an die Ufer der kristallklaren Flüsse und türkisblauen Seen in Patagonien. Wo immer ein Weg ans Ufer führt, wo immer ein Baum Schatten spendet, wird gebadet, gegrillt, gecampt. Temperaturen zwischen 35und 45 Grad im Schatten reduzieren die Aktivitäten auf ein Minimum. Mit den Füßen im Wasser und dem Kopf in der Sonne sitzen wir am Ufer – und kommen endlich mal dazu, all die Bücher zu lesen, die wir schon seit Urzeiten durch Südamerika fahren. Wir unterbrechen das süße Strandleben nur, um Lebensmittel aufzustocken oder um zur Fiesta in den Ort zu fahren. Denn Sommerzeit in Patagonien ist nicht nur Ferienzeit, sondern auch Feierzeit. Am ersten Wochenende im Februar findet in Cholila traditionell das Asado-Festival statt. Freitag, Samstag, Sonntag, drei Tage wirdgefeiert. Und am Montag wird in Cholila und Umgebung nicht gearbeitet. Da muss man sich vom Feiern erholen. In Cholila gibt es Asado im großen Stil. Sechzig Kälber und vierhundert Lämmer fallen dem Fest zum Opfer. Schon etliche Meter vor dem Asado-Platz spüren wir die enorme Hitze, die von den glimmenden Baumstämmen ausgeht, um die herum in Zweierreihen die Spieße aufgestellt sind. Beißender Rauch hängt in der Luft und treibt unsdie Tränen in die Augen. Anders als bei der Parilla, dem herkömmlichen Barbecue,liegt das Fleisch nicht auf einem Grillrost direkt über dem Feuer, sondern trocknet, auf großen Spießen aufgespannt, in einigem Abstand zum Feuer in der Hitze. Langsam aber stetig tropft das Fett aus den kokelnden Kälberhälften,färben sich die Lämmer dunkel. Es dauert Stunden, bis ein Spieß durch ist und wer zum Asado geht, braucht vor allem zwei Dinge: Geduld und Hunger. Letzteres ist bei uns immer vorhanden. Normalerweise, so klärt uns eine Gruppe Musiker aus Buenos Aires auf, sei Asado immer Kalb, nur hier in Patagonien gäbe es das typische und ganz spezielle Lamm-Asado. Na, wenn das so ist, dann ordern wir Lamm. Tobias schickt mich zur Essensausgabe. Der Asado-Meister, der meinenTeller füllt, meint es gut mit mir und säbelt mir mit seinem Fleischermesser ganz besonders zarte und vor allem fettfreie Stücke ab – und zwar in einer Menge, dass eine vierköpfige Familie davon satt werden könnte. Tobias grinst, als ich die 2,5-kg-Portion vor ihm abstelle. Er nennt das den Gringuita-Bonus (Anmerkung der Redaktion: Gringa = weibliche Form von Gringo; Gringuita = Verkleinerungsform dazu). Die Argentinier sind Profis in Sachen Fiesta, das merkt man sofort. Mit Klappstühlen, Sonnenschirm, Kühlbox fürs Bier und Thermoskanne für den Mate-Tee rücken sie an und machen es sich auf der Wiese vor der Bühne gemütlich. Denn wie jedes Festival in Argentinien ist auch das Asado-Festival in Cholila im Grunde ein Musik-Festival. Die eigentliche Party beginnt bei Einbruch der Dunkelheit (also so gegen 22 Uhr) und dauert bis in die frühen Morgenstunden. Nachts stehen anden Kreuzungen außerhalb des Ortes Polizisten – jedoch nicht, um Alkoholkontrollen durchzuführen, sondern um den Besuchern aus Esquel und El Bolsón den Weg nach Hause zu weisen und dafür zu sorgen, dass sie die richtige Abzweigung nehmen.

 

Wir fahren – ein paar Tage später – die Ortsumgehung um Cholila herum, weil wir einen Blick auf jenes legendäre Farmhaus werfen wollen, in dem die berühmt-berüchtigten Bankräuber Butch Cassidy und Sundance Kid zwischen 1901 und 1907 gelebt haben, nachdem es ihnen in den USA zu heiß geworden war. Das kleine Holzhaus versteckt sich –völlig unscheinbar – hinter einem größeren Gebäude und ist nur daran zuerkennen, dass die Eingangstür fehlt. Zum Glück war’s kein großer Umweg.

 

Als wir in El Bolsón ankommen, ist gerade Hippie-Markt – pardon: Künstler-Markt. Die Straßen sind brechend voll, zwischen Ständen mit allerlei Dingen, die die Welt nicht braucht, schwirren aufgeregteTouristen aus Buenos Aires auf der Suche nach einem Souvenir umher. Auf dem künstlich angelegten Teich, der nicht einmal halb so groß ist wie ein Fußballfeld, fahren Tretboote im Kreis. Auf der Wiese unter den Bäumen spielen Musik-Bands und buhlen Jongleure und Clowns um die Aufmerksamkeit der Besucher. In der Saltenaria an der Ecke gibt es 30 Sorten der leckeren Teigtaschen,darunter welche mit Forelle oder Roquefort-Käse gefüllt. In der Cerveceria am Ortsrand werden exotische Biersorten angeboten, zum Beispiel mit Erdbeer- oder Chili-Aroma. Im Hinterland, das wir der Abwechslung halber mal mit dem Fahrrad erkunden, haben sich Aussteiger aus aller Welt Traumhäuser jeder Art und Couleur gebaut. Einige davon wirklich hübsch und idyllisch gelegen. Wir müssen gestehen, auch uns gefällt es hier. Hier ließe es sich aushalten …

 

Doch das nächste Fest wartet auf bereits auf uns. In El Maitén findet das jährliche Festival del tren a vapor statt, ein Fest zu Ehren des berühmten Patagonien-Express’. Die Schmalspurbahn „La Trochita“ pendelte einst zwischen Esquel und der Küste hin und her und versorgte die Farmen entlang der Strecke. Heute ist sie eine der Touristenattraktionen und fährt in der Hochsaison täglich von Esquel nach El Maitén und zurück. An den drei Tagen des Festivals werden Sonderfahrten in die Umgebung angeboten. Doch eine Zugfahrt ist nicht so unser Fall. Wir genießen lieber die Atmosphäre im Ort. Aus selbstgezimmerten Buden – teilweise nur aus Pappkarton – werden Empanadas, Hot Dogs,Pommes, Pizzas und Hamburger verkauft. Bier gibt es in einer für uns endlich mal wieder vernünftigen Größe – nämlich im 1-Liter-Becher (!). Auf der Plaza wurde eine gigantische Bühne aufgebaut. Das Festival ist bekannt dafür, dass hier nationale Bands und Musiker ihre neuen Alben vorstellen. Vom Kleinkind bis zum Uropa ist alles auf den Beinen und putzmunter bis spät in die Nacht. Der letzte Programmpunkt startet mit Verspätung um etwa 1.30 Uhr und dauert eine Stunde. Danach geht’s zum großen Tanz in den Gemeindesaal. Wir feiern kräftig mit, essen, trinken, tanzen – und geben zum Schluss noch ein Interview für den örtlichen Radiosender.

 

Müde und ein bisschen schweigsamer als sonst machen wir uns am nächsten Tag auf dem Weg Richtung San Carlos de Bariloche. Allerdings nehmen wir nicht die direkte Route auf der Asphaltstraße – denn die sind wir in der Gegenrichtung ja schon einmal gefahren –, sondern fahren auf der alten Routa 40 entlang der Bahnlinie durch die patagonische Steppe. Wieder auf der asphaltierten Routa 237, die neuerdings Routa 40 heißt – warum wohl? – biegen wir zu den Siete Lagos ab. Die sieben Seen sind, wenn man genau nachzählt, weit über zehn Seen. Ob das wohl damit zu tun hat, dass es auf der anderen Seite der Grenze, in Chile, ebenfalls ein Gebiet der „Sieben Seen“ gibt?

 

Der Nationalpark Nahuel Huapi und das Seengebiet sind eines der beliebtesten Urlaubsziele der Argentinier – entsprechend befahren sind die Straßen und 

entsprechend voll sind die Campingplätze. Vor allem die kostenlosen Plätze an den Flüssen und Seen sind oft bis auf den vorletzten Platz belegt – doch der letzte freie Platz ist unserer! Und wieder steht Baden, Lesen, Faulenzen auf dem Programm. Doch wer glaubt, das Leben am Fluss sei langweilig, der irrt. Stunden und Tage verbringen wir damit, dem bunten Treiben um uns herumzuzusehen. Hier, im Freizeitverhalten, zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen der argentinischen Mentalität und der deutschen. Der Argentinier fährt mit seinem – meist alten und klapprigen Auto – so weit auf den Campingplatz oder so weit am Flussufer entlang, bis es nicht mehr weiter geht und lässt dann sein Auto einfach an Ort und Stelle stehen. Nach und nach klettern alle aus dem Fahrzeug – einem normalen PKW können da schon mal acht bis zehn Personen entsteigen. Kleinkinder und Hunde nicht mitgerechnet. Während die Männer das Zelt aufbauen und den Feuerring des Vorgängers um mindestens einen Meter versetzen – schließlich hat jeder ein Recht auf einen eigenen Feuerring – sammeln die Frauen Holz fürs Lagerfeuer. Nicht selten kommen sie mit ganzen Baumstämmen zurück. Ist kein umgefallener Baum verfügbar, wird den noch stehenden Bäumen mit Axt und Säge zu Leibe gerückt. Während dann die Frauen das Feuer bewachen – ja, die uralte Rollenverteilung greift auch hier noch – basteln sich die Männer aus Bambusrohren und Schnur eine Angel, stellen sich in die Mitte des Flusses und tun die nächsten Stunden nichts mehr, außer ihre Söhne zum Bierholen zu schicken. In der Zwischenzeit starten die Kids ab und zu den Motor des Autos, um die Batterie zu laden – denn ohne Strom keine Musik. Und ohne Musik kein Spaß. Wir beantworten geduldig alle Frage rund um unser Auto, geben hin und wieder eine Guided-Tour, lächeln fürs Foto und genießen ansonsten dasFlussfernsehen ganz ohne Werbepause.

 

Wie es der Zufall will, feiert Junin de los Andes gerade seinen 125. Geburtstag als wir in dem kleinen Städtchen ankommen. An der offiziellen Parade nehmen Delegationen aus den umliegenden Städten und Regionen, aber auch aus den Nachbarländern teil. Auch das Militär ist vertreten und wird von den Zuschauern mit tosendem Applaus bedacht. Die Falkland-/Malvinas-Veteranen werden mit Bravo-Rufen empfangen. Anders als das in Europa der Fall wäre, fliegen keine rohen Eier durch die Luft und findet auch keine Friedensdemonstration auf der benachbarten Plaza statt. Stattdessen zeigt eine Folklore-Gruppe traditionelle Tänze. Und nur wenige Meter über den Köpfen der Zuschauer dreht ein Kunstflieger seine Runden. Zum Schluss reiten die Gauchos auf ihren Pferden durch die Stadt – und gleich weiter in den Rodeo-Ring, wo sie beim Zureiten ungezähmter Pferde zeigen, wie sicher sie im Sattel sitzen. Das Publikum unterstützt lautstark und feuert die Gauchos an, doch nicht immer behält am Ende der Reiter die Oberhand über das Tier. Einige der Reiter landen ziemlich unsanft auf dem Rasen, ein paar Mal rücken sogar die Sanitäter aus, und ein Pferd hat entdeckt, dass es kräftesparender ist, sich einfach hinzulegen, statt zu springen und zu bocken. Sobald die Leine, mit der es am Pfosten festgebunden ist, gelöst wird, wirft es sich auf den Boden und begräbt den Reiter unter sich. Der Reiter gibt nicht auf. Immer wieder schwingt er sich in den Sattel. Und immer wieder legt sich das Pferd auf die Seite. Irgendwann hat die Jury genug und macht dem Spielchen ein Ende. Der Reiter ist disqualifiziert. Das Pferd hat gewonnen.

 

Weiter geht die Reise zum Lago Tromén, zum Vulkan Lanin und nach Zapala. Von hier aus drehen wir eine Runde durchs Hinterland, durch Wüste, Steppe und Araukarienwälder, vorbei am Lago Aluminé, bis zum Icalma-Pass. Hier drehen wir wieder um, denn wir wollen jetzt nicht nach Chile weiter reisen, sondern in Argentinien bleiben. Über den Ort Aluminé und den Nationalpark Laguna Blanca kehren wir wieder nach Zapala zurück. Und starten gleich zur nächsten Rundtour in die Berge.Caviahue hat etwa 400 permanente Einwohner, aber Platz für etwa zehnmal so viele Touristen. Die Gegend um den Lago Caviahue ist ein Skigebiet und beliebter Winter-Ferienort. Der Nachbarort Copahue dagegen erfreut sich wegen seiner Thermalquellen vor allem im Sommer reger Beliebtheit. (Anmerkung der Redaktion: Im Winter ist nämlich selbst das Wasser in den Thermalquellen kalt.)

 

Die Fahrt nach Caviahue erinnert uns an unsere Fahrten übers Altiplano, obwohl es dieses Mal nur auf 1600 Meter hinauf geht. Doch die Landschaft ist ähnlich und auch die aus Steinen aufgeschichteten Häuschen der Mapuche-Viehhirten, die hier den Sommer über leben, fehlen nicht. Wir passieren die Riscos Bayos, faszinierende Canyons aus pyroplastischem Gestein. Vier Meter hohe Schneestangen am Straßenrand lassen ahnen, dass die Anfahrt im Winter um einiges beschwerlicher ist als jetzt im Hochsommer. Kurz vor Caviahue zweigt ein Weg in einen Araukarienwald ab und führt immer am Fluss entlang, vorbei an insgesamt fünf Wasserfällen. Es riecht nach Schwefel. Auf der anderen Seite des Lago Caviahue stürzt am Salto del Agrio das Wasser des Rio Agrio 45 Meter nach unten in ein riesiges, kreisrundes Becken. Die Steine im Fluss sind rot, das Wasser eisenhaltig.Copahue ist berühmt wegen seiner – übrigens sogar von der WHO anerkannten – Heil- und Thermalbäder. Schwefel-, Algen- und Schlammbäder warten auf die Kurgäste. Wir sind auf einen hoch organisierten und exklusiven Kurort gefasst. Doch der winzige Ort hat sich seine Natürlichkeit bewahrt und es geht – in gewohnt argentinischer Art und Weise – entspannt und gemütlich zu. Im Thermalbadkomplex kann man richtig kuren, mit medizinischen Anwendungen, Massagen und Fango-Packungen. Wer jedoch bereit ist, sich den Fango-Schlamm selbst auf die Haut zu schmieren, kann dies ungestört und vor allem kostenlos an den „Lagunen“ vor dem Thermalbadkomplex tun. Etwas außerhalb des Ortes liegen die naturbelassenen Quellen „Las Maquinatas“. Auch hier muss man keinen Eintritt bezahlen. Aus aufgeschichteten Steinen wurde ein Dampfbad gebaut, es gibt mehrere Pools und eine Dusche, aus der warmes Wasser kommt. Was will man mehr? Auch wir bedecken also die eine oder andere Stelle unseres Körpers mit dem heilenden Schlamm. Kann ja nie schaden. Zumindest das heiße Schwefelbad, in das wir unsere Füße halten, zeigt sofortige Wirkung und ätzt den Dreck der letzten Tage und Wochen von unseren Fußsohlen. Der Abstecher in die Berge hat sich gelohnt und uns wieder einmal gezeigt, wie abwechslungsreich Patagonien ist.

 

Über El Huecu und Chos Malal fahren wir zurück auf die Ruta 40. Kurz vor dem Rio Colorado ändert sich fast schlagartig die Landschaft. Das trockene, gelbe Pampagras weicht saftigen, grünen Wiesen und Büschen. Am Horizont stehen Ölbohrtürme. Und dann ist es soweit: Wir verlassen Patagonien. Es ist ein merkwürdig stiller Augenblick als wir die Provinzgrenze passieren. Wir werfen einen letzten Blick zurück. Patagonien, wir werden dich vermissen! Der Tacho zeigt den 100.000sten Reisekilometer.


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