Reisebericht 38 vom 20.12.07 – 28.01.08: Patagonien - Ruta 40 + Carretera Austral


Route: (Argentinien) Ushuaia – Rio Grande – (Chile) Punta Arenas – Puerto Natales – Cerro Castillo – (Argentinien) Calafate – El Chaltén – Nationalpark Perito Moreno – Cueva de las Manos – Perito Moreno (Stadt) – Los Antiguos – (Chile) Chile Chico – Lago Bertrand – Puerto Tranquilo – Bahía Exploradores – Coyhaique – Puerto Aisén – Puerto Cisnes – Puyuhuapi – La Junta – Lago Yelcho – Chaitén – Parque Pumalín – Palena - Futaleufú


Zwei Tage nachdem wir von Bord unseres Antarktis-Kreuzfahrtschiffes gegangen sind, treffen Liz und Colin in Ushuaia ein. Sie sind nicht die einzigen, die die Weihnachtsfeiertage am Ende der Welt verbringen wollen. Im Stundentakt kommen neue Reisende an. Vom Offroad-Vehikel übers Wohnmobil bis hin zum komfortabel ausgebauten LKW mit Wohncontainer ist alles vertreten. Nichts für uns. Nach einer zwei Tage andauernden feucht-fröhlichen Vorweihnachtsfeier mit Liz und Colin, wollen wir eigentlich schon aufbrechen, da erfahren wir von einem anderen Reisenden, dass Karin und Coen hierher unterwegs sind. Unsere Wege hatten sich schon in Brasilien mehrmals gekreuzt, aber die Gelegenheit zu einem ausführlichen Plausch hatte sich nie ergeben. Also bleiben wir noch einen Tag und eine Nacht, bevor wir uns dann endgültig von allen verabschieden.

 

Wir sind am Wendepunkt unserer Reise. Ab jetzt heißt die grobe Richtung nicht mehr Süden, sondern Norden. Weihnachten verbringen wir ganz beschaulich zu zweit in Chile, in der Nähe von Punta Arenas. Silvester feiern wir – wie könnte es anders sein – im Bergsteiger-Eldorado El Chaltén in Argentinien. Am letzten Tag des alten Jahres laufen wir noch einmal hoch zur Laguna de los Tres am Fuße des Cerro Fitz Roy, die jetzt zu dieser Jahreszeit schon eisfrei ist und uns eine ganz andere Perspektive bietet als damals im Oktober.

 

Der Nationalpark Perito Moreno ist der abgeschiedenste und am wenigsten besuchte Park in ganz Argentinien. Von El Chaltén fahren wir etwa 100 Kilometer zurück zur Ruta 40. Von hier sind es noch einmal 220 Kilometer auf staubiger Schotterpiste bis zum Abzweig in den Park, und erst weitere 100 Kilometer später haben wir dann den Parkeingang erreicht. Die nächste größere Ortschaft ist 200 Kilometer entfernt, bis in die nächste Stadt sind es etwa 800 Kilometer. Die lange Fahrt durch Steppe, Wüste, Sand und Staub lohnt sich. Schon von weitem sehen wir die weißen Bergspitzen des San Lorenzo Massivs. Und unvermittelt tauchen hinter Hügeln, überzogen mit goldenem Gras, türkisblaue Gletscherseen auf. Nur ein kleiner Teil des 115.000 Hektar großen Parks ist erschlossen. Der größte Teil ist wilde, unberührte Natur.

 

Zweihundertfünfzig Kilometer nördlich des Parks, also sozusagen nur einen Katzensprung entfernt, hat der Río Pinturas einen tiefen Canyon in die Landschaft geschnitten und das Tal in eine grüne Oase verwandelt. Hier an den Felswänden und Überhängen befinden sich die Cuevas de las Manos, die Höhlen der Hände. Von ca. 7.500 v. Chr. bis etwa 1000 n. Chr. haben Nomadenvölker das Tal bewohnt und in insgesamt 89 Höhlen entlang des Canyons Wandmalereien, hauptsächlich Guanakos und Jagdszenen, sowie unzählige Negativ-Abdrücke von Händen hinterlassen.

 

Die Grenze zwischen Argentinien und Chile teilt den zweitgrößten See Südamerikas in einen argentinischen Teil, den Lago Buenos Aires, und einen chilenischen Teil, den Lago General Carrera. Kurz hinter der Grenze ändert sich fast schon schlagartig das Klima und mit ihm die Landschaft. Nebelwolken hängen über den Bergspitzen, die Luftfeuchtigkeit steigt und die Temperatur sinkt um etwa fünfzehn Grad. Statt durch trockene Pampa fahren wir nun durch Wälder und Wiesen.

 

Bei Cruce del Maitén treffen wir auf die Carretera Austral, jene legendäre Nord-Süd-Achse entlang der Fjord-Küste Chiles. Die Ruta 7, die mit vollem Namen Carretera Longitudinal Austral Presidente Pinochet heißt, wurde auf Anweisung Pinochets vom Militär als Nord-Süd-Achse parallel zur argentinischen Grenze gebaut. Sie beginnt in Puerto Montt und endet 1200 Kilometer weiter südlich in Villa O’Higgins. Die Carretera Austral gehört zu den Traumstraßen dieser Welt und darf auf keiner Reiseroute eines Südamerika-Fahrers fehlen. Zweifellos führt sie durch einige der schönsten Landstriche Chiles. Nahezu hinter jeder Kurve eröffnet sich dem Reisenden ein neues, großartiges Panorama: schneebedeckte Berge, tiefblaue, hängende Gletscher, dichter magellanischer Wald, mit Moosen und Flechten überzogene Baumstämme, milchig-weiße Flüsse, kristallklare Wasserfälle, smaragdgrüne Seen, trockene Steppe, felsige Karstlandschaft, verwinkelte Fjorde, schwarze Sandstrände, kalter Regenwald. Unermüdlich schlängelt sich die Carretera Austral einen Bergrücken nach dem anderen hinauf, um gleich dahinter wieder steil bis auf Meeresspiegelniveau abzufallen. Doch die Straße in die Einsamkeit, wie die Carretera Austral oft bezeichnet wird, einst berüchtigt wegen ihrer zahlreichen Schlaglöcher, ist heute bereits zu großen Teilen asphaltiert und längst nicht mehr so einsam wie manche Bildbände oder Reiseberichte sie darstellen. Schon heute gibt es entlang der Strecke Luxushotels, die sich ausschließlich an zahlungskräftige US-Amerikaner richten. Entlang der ganzen Strecke herrscht reger Linienbus-Verkehr. Exklusive und teure Flyfishing-Lodges säumen die Ufer der  Seen und Flüsse. In den kleineren Orten werben Herbergen, Bäckereien und Internet-Cafés mit multilingualen Schildern in Englisch und Hebräisch um Kunden.Und meistens hört die große Freiheit ohnehin am Weidezaun auf.

 

Zwischen Hornopirén und Chaitén erstreckt sich der Park Pumalín, ein Privat-Projekt, das bei der chilenischen Bevölkerung nicht nur auf Gegenliebe stößt. Douglas Tompkins, nordamerikanischer Multimillionär und Mitbegründer der Modefirma Esprit, kaufte mehrere Tausend Hektar unberührten Regenwald mit der Absicht, das Land vor Abholzung zu schützen. Doch als er das Land der 

chilenischen Regierung übergeben wollte, lehnte diese es ab, das Gebiet zum Nationalpark zu erklären. Seit 2005 hat der Park den Status eines Naturschutzgebietes und wird von einer eigens ins Leben gerufenen chilenischen Stiftung verwaltet. Wir sind beide schon sehr gespannt auf den Park. Von der einzigen Fahrstraße allerdings, die durch den Park führt und Chaitén mit dem Fähranleger Caleta Gonzalo verbindet, unterscheidet sich der Anblick nicht wesentlich vom Rest des Waldes entlang der Carretera Austral. Erst als wir uns zu Fuß auf den Weg ins Innere des Parks machen, entdecken wir seine volle Schönheit. Immergrüner, kalter Regenwald, jeder Millimeter Boden ist bewachsen und an den Stämmen der Bäume klettern Schlingpflanzen empor, haben sich Flechten und Moose angesiedelt. Der Wald  erinnert an den Bergnebelwald in Costa Rica – nur mit dem Unterschied, dass man sich hier bedenkenlos an allen Blättern, Ästen und Zweigen festhalten kann, ohne Angst haben zu müssen, dass sie giftig sind oder beißen. Man merkt sofort, dass der Park nach nordamerikanischem Vorbild angelegt wurde. Die Wanderwege sind breit und beschildert. Die Infrastruktur ist perfekt und ausgewogen – nicht so viel, dass es aufdringlich oder künstlich wirken würde, aber genug, um einem den Besuch des Parks angenehm zu machen. Obwohl wir schon alle Wege abgelaufen sind, bleiben wir noch einen Tag am Strand von Santa Barbara und beobachten die Delfine, die in der Bucht ihre Runden drehen. Wir bleiben einen weiteren Tag. Und noch einen. Dann fahren wir in einen anderen Teil des Parks, den Sektor Amarillo, und wandern zum gleichnamigen Gletscher. Dabei müssen wir mehrmals den Fluss durchwaten. Da das Wasser milchig weiß ist, kann man den Grund nicht sehen. Bei einer Querungen rutsche ich auf den Kieselsteinen aus und falle ins Wasser. Tobias, geistesgegenwärtig, greift zu – und rettet die Fotokamera. Natürlich nicht, ohne mir einen Vortrag darüber zu halten, wie gefährlich diese Flussquerungen sind. »Das Wasser ist zwar nicht tief. Aber die relativ starke Strömung reicht aus, um darin zu ertrinken.« Sehr beruhigend.

 

Auf dem großzügigen (und kostenlosen) Campingplatz im Sektor Amarillo verbringen wir weitere drei Tage damit, uns im Nichtstun zu üben. Am vierten Tag zwingt uns der Mangel an Nahrungsmitteln zu einem Ausflug in die Stadt. Wir nutzen die Gelegenheit, um uns in den Cocineras Costumbristas, einem Zusammenschluss traditioneller Garküchen, den Bauch mit feinstem Lachs voll zuschlagen. Als wir am Nachmittag in den Sektor Amarillo zurückkehren wollen, staunen wir nicht schlecht. Sämtliche Campingplätze sind geschlossen, alle Tafeln und Hinweisschilder mit entsprechenden Zetteln überklebt. Angeblich hat der Park Pumalin keine Genehmigung zu deren Betrieb, obwohl sie schon seit einem Jahr existieren. Es fehlt ein ganz spezielles Dokument, das bisher noch nicht ausgestellt worden ist. Ein Umstand, den man „rechtzeitig“ zu Beginn der chilenischen Ferienzeit bemerkt hat. Der Park-Ranger ist frustriert. Der Park dient dem Wohle der Allgemeinheit, er kostet keinen Eintritt und im Sektor Amarillo sind zusätzlich die Campingplätze kostenlos – und zudem blitzblank sauber. Jeden Morgen wird der Müll abgeholt und die Badehäuschen geputzt. Kein Wunder also, dass die Campingplätze entlang der Straße kein Geschäft mehr machen, denn dort wird – wie in Chile üblich – viel Geld für keinerlei Infrastruktur verlangt. Ob das womöglich der Grund für die Schließung ist? Der Ranger schweigt – und nickt. Schade eigentlich, dass Chile sich noch immer auf der Entwicklungsstufe eines Dritte-Welt-Landes befindet, in dem Toiletten und Müllentsorgung auf Campingplätzen und in Nationalparks als Luxus angesehen werden und nicht als notwendige Maßnahme, um die Natur vor Verschmutzung zu schützen.

 

Zeit für einen Ortswechsel. Ende Januar finden in den Orten entlang der Carretera Austral überall Rodeos statt. Die Sieger dieser regionalen Rodeos treten dann im März beim großen nationalen Rodeo-Wettbewerb in Rancagua gegeneinander an. Wir fahren nach Palena, einem winzigen Ort kurz vor der argentinischen Grenze. Mit einer Stunde Verspätung – also verhältnismäßig pünktlich für südamerikanische Verhältnisse – reiten am Sonntag Mittag die Teilnehmer in den Rodeo-Ring, die Medialuna, ein. Die Reiter tragen eine enge, taillenkurze Jacke, darüber einen kurzen Poncho, enge schwarze Hosen, kniehohe Stiefel mit Sporen und hohen Absätzen. Und der breitkrempige Hut

darf natürlich auch nicht fehlen. Die Reiter treten paarweise an und müssen einen jungen Stier durch die Arena zu einem bestimmten Punkt an der Bande treiben – mal schnell, mal langsam. Punkte gibt es nicht nur für die Bewältigung der Aufgabe, sondern auch für Stil und Eleganz sowie für harmonisches Zusammenspiel der beiden Reiter. Entwischt ihnen der Stier, gibt’s Minuspunkte. Für die Teilnehmer ist das Rodeo eine ernste Angelegenheit. Für die Zuschauer scheint es eher eine willkommene Gelegenheit zu sein, um zusammen mit Freunden einen über den Durst zu trinken. Ab und zu geht ein Raunen durch die Menge, doch an sich hält sich die emotionale Beteiligung am Geschehen in Grenzen.

 

Auf dem Weg zur Grenze fahren wir am türkisblauen Río Futaleufú entlang. Das Wasser leuchtet so einladend frisch in dieser unglaublichen Bonbon-Farbe, dass wir im Ort Futaleufú stoppen, um uns nach den Möglichkeiten für einen Rafting- oder Kajakausflug zu erkundigen. Dabei hätte es eigentlich klar sein müssen, dass in einem Ort, in dem US-Amerikaner als Tour-Guides arbeiten und versuchen, mit der Ausübung ihres Hobbies Geld zu verdienen, die  Preisvorstellungen jenseits von Gut und Böse liegen. Nun gut, es war ein Versuch. Ciao Chile! Hasta luego en Argentina!


Bildergalerie