Reisebericht 40 vom 27.02.08 – 01.04.08: Argentinien - Ciao Argentina, ciao amigo


Route: Malargüe – Valle Sosneado – San Rafael – Canyon Atuel – Villa 25 de Mayo – San Luis – Villa La Mercedes – Villa General Belgrano – Embalse – Alta Gracia – Córdoba – Carlos Paz – Los Gigantes – Sierra de Córdoba – Villa Cura Brochero – Luján – El Volcan – El Trapiche – Carolina – San Luis – Salinas del Bebedero – NP Las Quijadas – San Juan – Mendoza – Villa Vicencio – Uspallata – San Rafael – Malargüe – San Rafael – Buenos Aires – Tigre – Corrientes – Mercedes – Colonia Carlos Pellegrini – Buenos Aires


Patagonien liegt hinter uns. Der Kompass, der durch den langen Aufenthalt auf der Südhalbkugel noch immer nicht ganz auf Kurs ist, zeigt konstant Südsüdwest an, obwohl wir seit geraumer Zeit schon nach Norden fahren. Links von uns liegt die Andenkordillere, rechts von uns ein Naturreservat, vor uns Malargüe. Der Ort, der vor allem im Winter während der Skisaison zum Leben erwacht, besteht im Wesentlichen aus einer breiten, doppelspurigen und ziemlich langen Hauptstraße. Wir drehen eine Runde durch die Nebenstraßen. Als wir am Campingplatz vorbei fahren, sticht uns sofort der quietschgelbe Landy von Eugen ins Auge. Eugen ist schon eine halbe Ewigkeit unterwegs, verrät er uns, und seit zwei Jahren gehört er nun hier in Malargüe quasi zum Inventar. Auf seinen Rat hin fahren wir ins Valle Sosneado, zur Laguna Sosneado und weiter zu den Ruinen eines ehemaligen Thermalhotels. Glücklicherweise ist das Thermalbad noch intakt, so dass die Badebecken heute für jeden frei zugänglich sind. Vom Beckenrand aus hat man einen tollen Blick auf die Berge, in denen 1972 das Flugzeug mit der uruguayischen Fußballmannschaft an Bord abstürzte. Den Überlebenden, die erst nach etwa 70 Tagen gerettet worden waren, blieb damals in der eisigen Kälte der Anden nichts anderes übrig, als ihre toten Kameraden zu essen, um nicht zu verhungern. Wer will kann einen dreitägigen Pferdeausflug zur Unglücksstelle machen und einen Blick auf das Flugzeugwrack werfen. Aber mal ehrlich: Argentinien hat Spannenderes zu bieten.

 

Wir ziehen weiter nach San Rafael, um durch die enge und kurvenreiche Schlucht des Cañon de Atuel zu fahren. Die vier Staudämme im Canyon sowie die zugehörigen Stauseen und Wasserkraftwerke locken jede Menge Besucher an. Auch auf der anderen Seite der Stadt, hinter Villa 25 de Mayo, gibt es Staudämme und Stauseen. Das Bild ist immer gleich bizarr: Auf der einen Seite der Staumauer lädt türkisblaues Wasser in gefluteten Canyons zum Baden ein, auf der anderen Seite gibt es nichts als Wüste im ausgetrockneten Flussbett. Anders als die Chilenen, die überall im Land gegen Staudämme protestieren, scheinen die Argentinier ihre Staudämme und Stauseen zu lieben. Am Wochenende zieht sich eine nicht enden wollende Autoschlange durch den Canyon. Schon früh füllen sich die Campingplätze am Fluss. Ein Pick-up-Camper mit argentinischem Nummernschild hält neben uns, ein Mann steigt aus und kommt schüchtern lächelnd auf uns zu. Umständlich erklärt er uns, er habe so ein ähnliches Auto wie unseres schon einmal gesehen, vor einigen Monaten, weiter im Norden … lange Rede, kurzer Sinn: Es stellt sich heraus, dass wir zur gleichen Zeit auf dem Camping Municipal in Salta gestanden haben, im August letzten Jahres. Der Mann strahlt übers ganze Gesicht, als er seiner Frau, die erwartungsvoll aus der Camper-Türe spitzt, zuruft: »Sie sind’s! Das sind die beiden aus Salta!«

 

Wenn eine Reise wie die unsere sich dem Ende zuneigt, dann stellt sich die Frage: Was passiert mit dem Fahrzeug? Zurück nach Deutschland verschiffen, irgendwo einstellen oder hier vor Ort verkaufen – das sind mehr oder weniger die Alternativen. Nach einigem Hin und Her haben wir unsere Entscheidung getroffen: Wir verkaufen unseren Landy. Augenblicklich stehen wir vor dem nächsten Problem: Wie kommen all die Sachen aus dem Auto nach Deutschland? Die Lösung ist blau, blau wie der Truck von Isabella und Peter. Die beiden verschiffen ihren Truck in den nächsten Tagen nach Deutschland und erklären sich sofort bereit, ein paar Kisten von uns mitzunehmen. Die Zeit drängt. Per SMS teilt uns Isabella mit: Treffen übermorgen in Villa Belgrano. Obwohl wir ohnehin vorhatten, nach Cordoba zu fahren und Villa Belgrano genau am Weg liegt, murrt Tobias. »Ich hatte mir geschworen, nie nach Villa Belgrano zu fahren«. Es stimmt schon, wir wollten einen möglichst weiten Bogen um diese Siedlung deutscher Auswanderer machen, in der noch heute ein paar Überlebende des legendären Kriegsschiffes Graf Spee leben und deren größte Attraktion das jährlich stattfindende Oktoberfest ist. Angesichts der reizvollen Landschaft, durch die wir fahren, ist Tobias jedoch bald wieder bester Stimmung. Obsthaine, saftige grüne Wiesen, Felder und Äcker so weit das Auge reicht. Neben der Fahrbahn ein gemähter Seitenstreifen, auf dem hin und wieder gemauerte Grills im Schatten unter den Bäumen stehen und zur Rast einladen. Weiße Flecken am Horizont lassen erahnen, dass dort irgendwo eine Estancia liegen muss. Mittendrin dann plötzlich ein einsamer Bahnhof, der scheinbar zur Versorgung eben jener Estancias dient. Ab und zu Überholen wir einen Heulaster. Und an der Tankstelle teilen wir uns mit dem Traktor die Zapfsäule. Ländliche Idylle. Auch das ist Argentinien. Zum Glück ist es März und die Oktoberfest-Halle auf dem Oktoberfest-Platz in Villa belgrano steht leer. Wir beeilen uns mit dem Umpacken, um noch einen Tag gemeinsam mit Peter und Isabella am Stausee in Embalse verbringen zu können. Als Peter zur Feier des Tages die Whiskey-Flasche entkorkt, freut sich nicht nur Tobias. Auch ein halbwüchsiges Pferd, das Nebenan grast, will mal probieren. Als es trotz wiederholter Versuche nichts von meinem Drink abbekommt, wirft es kurzerhand Tobias’ Glas um. Mit einem Taschentuch wische ich den Whiskey auf und halte es dem Gaul spaßeshalber unter die Nase. Und haste nicht gesehen, ist’s aufgefressen. Tobias bekommt einen kostenlosen Nachschank, muss aber versprechen, in Zukunft besser auf seine Getränke aufzupassen. (Vielen Dank, Isabella und Peter, dass ihr uns um einige Kilogramm und eine Sorge erleichtert habt!)

 

Nächste Station Córdoba. Die Stadt mit dem großen spanischen Namen zeigt sich selbst im Stadtkern nur mäßig kolonial. Wir schlendern ein bisschen durch die Fußgängerzone und gehen im Mercado essen. Da man uns in der Tourist-Information aus Sicherheitsgründen von einer Übernachtung auf dem städtischen Campingplatz abrät, wollen wir die Stadt so bald wie möglich wieder verlassen. Hinter Villa Carlos Paz, einem gesichtlosen Ferienort für ältere Semester mit Geld, endet die Teerstraße. Eine gute Sandpiste führt hinein in die Sierra de Córdoba. Die Landschaft mutet surreal an. Aus dem Gras und dem Gestrüpp, das die rollenden Hügel bedeckt, ragen riesige, runde graue Granitfelsen empor. Dunkle Wolken hängen tief über der Erde. Links und rechts des Weges zeugen Schlammlöcher von den Regengüssen der letzten Tage. Über Kilometer hinweg ist kein Mensch, kein Auto, kein Haus zu sehen – und das, obwohl wir gar nicht weit von Cordoba entfernt sind. Als abends die Sonne untergeht, sehen wir unten im Tal die Lichter der Städte Cordoba und

Carlos Paz. Dort, wo wir stehen, ist es stockfinster. Und absolut still.

 

Hinter Tanti geht es hoch hinauf in die Sierra – und dort steht auf einmal der ohnehin spärliche Verkehr. Ein Reisebus ist in einer engen und noch dazu schlammigen Kurve ins Schleudern geraten und mit dem Heck voran den Hang hinunter gerutscht. Vor uns rangiert ein LKW mit Anhänger rückwärts die Serpentinen hinunter. Auch für ihn ist die Kurve zu gefährlich. Für uns dagegen geht die Fahrt weiter. Bei Salsacate biegen wir wieder nach Süden ab. Wir passieren kleine, malerische Orte wie zum Beispiel Quines und Lujan, aber auch die futuristisch anmutende Universitätsstadt La Punta, die erste argentinische Stadt des 21. Jahrhunderts. In der Sierra Puntana ist, obwohl Wochenende, nicht viel los. Die Flüsse, die laut Werbeprospekt eigentlich kristallklar hätten sein müssen, sind braun und trübe. Seit Tagen regnet es in den Bergen – was uns natürlich nicht daran hindert, eben diese zu besuchen. Als wir La Carolina, eine ehemalige Goldminen-Stadt erreichen, fallen bereits die ersten Tropfen. Kurz darauf prasseln kirschkerngroße Hagelkörner auf unser Auto herab. Innerhalb von Sekunden steht um uns herum alles unter Wasser. Dort wo eben noch eine Straße war, erstreckt sich nun eine enorme Wasserfläche bis weit in die Wiesen und Felder hinein. Das Wasser schießt über die Straße, reißt Grasbüschel und Erde mit sich. Der Spuk dauert nur ein paar Minuten, dann hört der Regen wieder auf. Zurück bleiben tiefe Pfützen und Löcher in der Straße.

 

Und dann stehen wir plötzlich vor der Freiheitsstatue … Sollten wir so weit vom Weg abgekommen sein? Auf dem Gehweg parkt ein amerikanisches Taxi. Und die Häuser in der Seitenstraße haben Feuerleitern wie man sie aus New York kennt. Aber nein, wir haben uns nicht verfahren – wir haben lediglich das Spielcasino von San Luis entdeckt. Vor den Toren San Luis’ liegen die Salinas del Bebedero. Eine Welt in Weiß. Meterhohe Salzberge trocknen in der Sonne und werden mit dem Bagger auf LKWs verladen. Ein paar Kilometer westlich von San Luis dagegen, erstreckt sich eine Welt ganz in Rot. Die von Erosion geformten Sandsteinfelsen des Nationalparks Las Quijadas laden zum Wandern ein und regen die Fantasie an. Irgendwo unten im Tal gibt es einen versteinerten Dinosaurier-Fußabdruck und ganz hinten am Horizont kann man bereits wieder die Andenkordillere erahnen. Guanakos leben hier, Füchse und Maras, die langbeinigen patagonischen Hasen. Wir beschließen, die Nacht im Park zu verbringen. Gegen Abend leert sich der Park und schon bald haben wir die faszinierende Canyonlandschaft ganz für uns allein.

 

Der Termin des Autoverkaufs rückt näher. Wir fahren über San Juan und besuchen Albert und Deborá. Dann geht es weiter nach Mendoza, wo wir in der Werkstatt von Claudio noch einmal einen letzten Service-Check machen lassen. Claudio freut sich, dass wir wieder da sind, zückt sein Handy und ruft seinen Freund Eduardo an, der kurz darauf in der Werkstatt auftaucht und uns mit glänzenden Augen über unsere Reise ausfragt. Ende April, so erzählt er uns, will er selbst aufbrechen zu einer dreimonatigen Fahrt durch Peru, Bolivien, Brasilien und Kolumbien. Kurzerhand lädt uns Eduardo zu sich nach Hause ein – zum Erzählen, zum Abendessen und zum Übernachten. Obwohl wir mittlerweile ein bisschen unter Zeitdruck stehen, nehmen wir die Einladung an. Eduardo ist Inhaber einer Firma, die sich auf Reparaturen von Fernseher, Video- und DVD-Recorder spezialisiert hat. Stolz führt er uns durch die Hallen, vorbei an Regalen, die bis unter die Decke voll mit defekten Geräten stehen. Zeit, um Urlaub zu machen, hat er eigentlich keine, aber sein Sohn Pablo wird

sich während seiner Abwesenheit ums Geschäft kümmern. Wir parken unseren Landy in der dreifach alarmgesicherten Lagerhalle und fahren mit Eduardo nach Hause. Sein Stadthaus, von außen relativ unscheinbar, entpuppt sich innen als ein wahrer Palast: vier Stockwerke, zwei Wohnzimmer, sieben Bäder – den Swimmingpool nicht mitgezählt. Als dann zum Abendessen auch noch ein Freund der Familie erscheint, der sich als Ex-Gouverneur von Mendoza vorstellt, fühle ich mich in meinen verstaubten Trekkinghosen endgültig under-dressed. Doch niemanden scheinen die Flecken auf unseren Klamotten zu stören. Wir könnten bleiben, so lange wir wollen, bietet uns Eduardo am nächsten Morgen an, und Claudio lädt uns zum Offroad-Fahren ein. Aber die Zeit wird allmählich knapp und so müssen wir beiden leider absagen. (Eduardo, muchas gracias para todo y buen viaje!)

 

Etwas schweigsamer als sonst treten wir die letzte Fahrt zu zweit in unserem Landy an. Als wir in Malargüe, dem Ort der Übergabe, wieder auf den Campingplatz fahren, werden wir freudestrahlend von Eugen begrüßt. Auch Doris und Jürgen mit ihrem Feuerwehr-Truck stehen auf dem Platz. Einen Tag später kommen dann noch Peter und Stefanie, die Käufer unseres Landys, an. Die Details und Formalitäten des Autoverkaufs sind schnell geklärt und wir machen uns gemeinsam auf den Weg nach San Rafael, um dort beim Zoll die temporäre Importbescheinigung für den Landy umschreiben zu lassen. Der herkömmliche Weg bei einem Autoverkauf in Südamerika an andere Reisende ist der Weg über die Grenze, d. h. der alte Besitzer reist mit dem Fahrzeug und den Papieren auf seinen Namen aus dem Land aus, der neue Besitzer reist mit dem Fahrzeug und den neuen Papieren in das Nachbarland ein. Die Fahrzeugübergabe findet sozusagen zwischen den Grenzen statt. Uns ist dieser Weg zu umständlich, wir wollen es auf eine andere Art und Weise versuchen. Viele haben uns abgeraten, Behörden in den Prozess einzuschalten – weil die angeblich alles nur komplizierter machen würden, weil die die Hand aufhalten würden usw. Doch der Zoll in San Rafael zeigt sich kooperativ und pragmatisch. Handschriftlich wird auf der Rückseite der temporären Importbescheinigung vermerkt, dass der Zoll davon Kenntnis genommen hat, dass der Besitzer des Fahrzeugs gewechselt hat. Alter und neuer Besitzer werden vermerkt und unterschreiben, der Zoll drückt Stempel und Unterschrift aufs Papier. Fertig! Das Ganze dauert keine zehn Minuten. Keine Fragen, keine Kosten, kein Stress. Ab sofort fährt unser Landy also unter schweizerischer Flagge weiter durch Südamerika. Ja, wir geben zu, wir sind ein bisschen neidisch. Unser Landy bleibt hier und wir müssen nach Hause … so ganz gerecht ist das nicht. (Stefanie und Peter, wir wünschen euch und „unserem“ Landy eine gute Fahrt!)

 

Die erste Nacht als Rucksack-Reisende verbringen wir – stilecht – auf der Straße, im Nachtbus nach Buenos Aires. Wir sind jetzt Backpacker. Und unsere größte Befürchtung bezüglich unserer neuen Art zu reisen, soll sich in den nächsten Tagen als wahr entpuppen: Die reziproke Entwicklung von Lebensstandard und Kosten.

 

Buenos Aires heißt frei übersetzt so viel wie »gute Luft«. Doch statt einer duftigen Brise weht uns der Gestank von menschlicher Pisse, von Hundekacke und Autoabgasen um die Nase. Von den Prunkbauten der Stadt bröckelt der Putz und auf den Straßen, insbesondere im Touristen-Viertel San Telmo, türmt sich der Müll. In den Toreinfahrten sitzen Obdachlose, die nach Einbruch der Dunkelheit im Wohlstandsmüll nach Verwert- und Essbarem suchen. Es ist Ostern, Semana Santa, und die Stadt ist zum Bersten voll. Hotels und Hostels haben Hochkonjunktur und die Restaurants haben speziell für die Osterwoche extra Speisekarten drucken lassen – natürlich mit ganz speziellen Preisen. Unser erster Gang führt uns zur zentralen Plaza. Seit über 20 Jahren versammeln sich hier jeden Donnerstag um 15 Uhr die »Mütter der Plaza 25 de Mayo« vor dem Regierungsgebäude zu einem Schweigemarsch, um daran zu erinnern, dass sie noch immer auf Informationen über den Verbleib ihrer unter der Militärdiktatur verschwundenen Söhne warten. Doch zwischen all den Hot-Dog-Buden und fotografierenden Reisegruppen wirken die alten Frauen mit ihren weißen Kopftüchern seltsam verloren. Wir besuchen das Grab von Eva Peron. Wir schlendern durch das noble Stadtviertel Recoleta mit seinen vielen Kunstgalerien, Museen und Einkaufszentren. Wir spazieren an den Docks des Neuen Hafens im Viertel Puerto Madero entlang, wo sich alte Segelschiffe in modernen Hochhausfassaden spiegeln. Wir laufen durch die Straßen San Telmos und schauen den meist professionellen Tangotänzern zu. Von den Tangoklängen inspiriert, stellen auch hin und wieder ein paar Porteños, wie die Hauptstädter auch genannt werden, ihre Taschen auf das Pflaster und schwingen für ein paar Takte das Tanzbein. San Telmo, das älteste Stadtviertel Buenos Aires verwandelt sich jeden Sonntag in einen farbenfrohen Flohmarkt und in eine Bühne für Musiker, Tangotänzer und (Lebens-)Künstler aller Art. Neben echten Antiquitäten werden auch Plastikblumen aus Taiwan, bemalte Holzuntersetzer aus Ecuador und bestickte Umhängetaschen aus Bolivien feilgeboten. Ein Mischmasch, der nicht jedermanns Geschmack ist. »Donde está Argentina? – Wo ist Argentinien?«, murmelt eine alte Frau kopfschüttelnd vor sich hin, während sie sich ihren Weg durch die Touristenmassen bahnt. Doch wenn man so etwas wie Authentizität in Buenos Aires überhaupt noch findet, dann wohl am ehesten im Stadtteil La Boca. Das Herzstück La Bocas ist die Bonbonera, das blau-gelbe Fußballstadion des berühmtesten Fußballvereins Argentiniens, der »Boca Juniors«. Am Ostersonntag haben die Bocas ein Heimspiel gegen Colón. Bereits zwei Stunden vor Spielbeginn ist das gesamte Stadtviertel eine blau-gelbe wabernde Masse. Wir genehmigen uns der Strassenecke zum Stadion ein Choripan. Die auf einem zerschnittenen Eisenfass gegrillte Wurst wird halbiert und zwischen zwei Brötchenhälften gequetscht – die argentinische Version des fränkischen Bratwurstbrötchens also, »2 Halbe im Weckla«, gewürzt mit leckerer Chimichurri-Sauce. Wir sind eigentlich der bunten Häuser wegen nach La Boca marschiert. »El Caminito« ist eine etwa 100 Meter lange Gasse, gesäumt von bunt angemalten Blechhäusern, mit Tangotänzern vor den Restaurants, mit Artesania-Märkten und Kunstgalerien. Von dieser Touri-Meile mal abgesehen ist La Boca sicherlich eines der authentischsten, aber leider auch der ärmsten Stadtviertel Buenos Aires.

 

Ganz anders und das absolute Kontrastprogramm dazu ist El Tigre. Hier in den verwinkelten Kanälen des Flussdeltas, in dem der Rio Paraná in den Rio de la Plata fließt, stehen die Wochenendhäuschen der reichen Porteños. Natürlich besuchen wir das Flussdelta nicht an irgendeinem Tag, sondern dann, wenn alle anderen auch da sind, an einem Sonntag. Das Flussdelta ist beliebtes  Wochenendausflugsziel für alle, die für eine Weile den grauen Steinmauern der Hauptstadt entfliehen möchten. Man trifft sich zum Picknick auf einem der Campingplätze, schlendert über den Artesania-Markt, isst sein Choripan an einer der vielen Grillbuden, setzt sich mit einem Bier an die Kai-Mauer im Hafen oder macht eine der zahlreich angebotenen Bootsfahrten durchs Delta. Unberührte Natur bekommt man auf den Bootsausflügen nicht geboten, dafür aber jede Menge Einblicke in die Freizeitbeschäftigungen der wohlhabenden Schicht. Im Bikini wird da der Rasen gemäht, der Bootsanlegesteg gestrichen oder das Motorboot repariert.

 

Nach einer Woche in der Stadt verlangen unsere Lungen dringend nach sauberer Landluft. Wir fahren nach Corrientes, um den Rio Paraná zu sehen, an dessen gegenüberliegender Uferseite bereits Paraguay liegt. Weiter geht es nach Mercedes und von dort nach Colonia Carlos Pellegrini, dem Ausgangspunkt für Touren in die Iberá-Sümpfe. Etwa 13.500 km² ist das Feuchtgebiet groß, das dem Pantanal in Brasilien sehr ähnlich ist, nur eben viel, viel kleiner. Wir erkunden die Sumpflandschaft per Boot, zu Fuß und auf dem Pferd. Im Urwald hüpfen Brüllaffen über unseren Köpfen von Ast zu Ast und streiten sich um die Früchte der Palmen. Wir beobachten Kaimane dabei, wie sie ein totes Capivara (Wasserschwein) unter Wasser ziehen. Wir sehen kleine Hirsche mit riesigen Ohren (ciervo pantanal), die friedlich auf den schwimmenden Inseln grasen, jenen zentimeterdicken Matten aus Wurzeln und Erde, die ohne Kontakt zum Boden einfach auf der Wasseroberfläche treiben, und fragen uns, ob die Hirsche schwimmen können.

 

Wieder einmal nehmen wir den Nachtbus und sparen uns somit erneut eine Übernachtung im Hostel. Nur Fliegen ist schöner. »Coche Cama« heißt hier der Bus mit den Liegesitzen und dem fantastischen Service. Was die Strecke zwischen Corrientes und Buenos Aires angeht, so sind wir gar nicht so unglücklich darüber, sie statt mit dem eigenen Fahrzeug mit dem Bus zurückzulegen. Aus zwei Gründen. Erstens ist die Strecke unter Reisenden wegen ihrer vielen Polizeikontrollen und der extrem korrupten Polizisten berüchtigt, die immer einen Vorwand finden, um dem Reisenden mit eigenem Fahrzeug mal schnelle eine Strafe von umgerechnet einhundert Dollar aufzubrummen. Es soll ja Reisende geben, die die verlangten (Mond-)Preise bezahlen, nur um sich Ärger zu ersparen. Da wir aber nicht einsehen, warum wir die Bordellgänge eines fetten, feisten Beamten finanzieren sollen, hätten wir auf der Strecke sicherlich keinen Spaß gehabt. Die Beamten allerdings auch

nicht. Der zweite Grund sind die Straßenblockaden. Die Landwirte demonstrieren gegen die Erhöhung der Exportzölle für Agrarprodukte, indem sie den Transport von Agrarprodukten in die Hauptstadt behindern und so für eine Verknappung und damit einhergehende Preissteigerung von Obst und Gemüse aber auch von Fleisch sorgen. Die ausgebremsten LKWs bilden lange Schlangen am Straßenrand. Privatfahrzeuge werden in der Regel durchgewunken. Busse dürfen auf jeden Fall passieren. Und so erreichen wir Buenos Aires wie geplant in den frühen Morgenstunden, rechtzeitig genug, um noch ein Ticket für die 9-Uhr-Fähre nach Uruguay zu erstehen. Mit Blick auf die Skyline von Buenos Aires verabschieden wir uns von einem fantastischen Land.


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