Reisebericht 29 vom 16.07.07 – 23.07.07: Landjäger und Leberkäse in Paraguay


Route: Ciudad del Este – Asunción – Neu-Halbstadt – Neuland – Filadelfia – Loma Plata – Laguna Yaraguay – Laguna Bombacha – Laguna Capitán – La Patria


Gleich hinter der Grenzstadt und dem Einkaufs- und Schmugglerparadies Ciudad del Este fängt die Kleinstadtidylle an. Kleine, verspielte Backsteinhäuschen mit spitz zulaufenden Ziegeldächern. Umzäunte Vorgärten mit perfekt gemähtem Rasen, Schaukeln und Gartenzwergen. In den Gärten spielen blonde Kinder. Viele der Erwachsenen haben europäische Gesichtszüge. Und dann das Schild „Wirtshaus im Spessart“ – jetzt ist alles klar. Paraguay ist fest in deutscher Hand.

 

Die Hauptstadt Asunción macht nicht viel her. Zwischen den Regierungsgebäuden und dem Ufer des Rio Paraguay hat sich das Slum-Viertel gedrängt. Auf den Gehsteigen vor den großen Einkaufszentren und Banken haben die fliegenden Händler ihre Waren ausgebreitet. Asunción ist eine Mischung aus moderner Großstadt und lateinamerikanischem Bazar. Und obwohl die Stadt gerade mal 1,3 Millionen Einwohner zählt, liegt sie unter einer stinkenden Smog-Glocke.

 

Wir lassen Asunción so schnell wie möglich hinter uns und nehmen Kurs auf den Chaco, jene trockene Gras- und Steppenlandschaft im Westen des Landes, die sich allein in Paraguay auf einer Länge von über 700 Kilometern erstreckt. Links und rechts der asphaltierten Trans-Chaco Ruta 9 wechseln sich zunächst Palmenhaine und Kuhwiesen ab. Hin und wieder passieren wir das Eingangstor einer Estancia mit wohlklingendem Namen. Namenlos dagegen die behelfsmäßig zusammen gezimmerten Behausungen der Landlosen vor den Zäunen der Großgrundbesitzer. Die Menschen, die hier leben, gehören zu den nur noch 2% Indigenas in Paraguay. Sie sind heute nur noch eine Minderheit ohne Land, ohne Bildung, ohne Arbeit, Opfer der zahlreichen Land- und Bodenreformen Paraguays.

 

Die Ruta 9 ist nicht nur die Straße der Heimatlosen, sondern auch die Straße der Polizeikontrollen. Je näher wir den Mennoniten-Siedlungen kommen, desto mehr Polizisten sehen wir auf der Straße. In Paraguay ist es Vorschrift, auch tagsüber mit Abblendlicht zu fahren. Kein Problem, denken wir, dann schalten wir es eben ein. Doch die Scheinwerfer bleiben dunkel. Der Lichtschalter ist kaputt. Ein altbekanntes Landrover-Problem. Also gut, fahren wir eben ohne Licht. 300 Kilometer lang geht alles gut, dann stoppt uns ein Polizist. Ob wir denn nicht wüssten … Sofort fällt das böse Wort „Multa“ – Strafe. Die wollen wir aber nicht bezahlen, denn schließlich, so schwindeln wir, wären wir ja bereits auf dem Weg in die Werkstatt – und zwar nach Loma Plata. Aber vielleicht, so fragt Tobias scheinheilig, wüsste ja der Polizist eine nähere Werkstatt. Er kennt natürlich keine. Aber der Trick funktioniert. Ohne Strafe dürfen wir weiter fahren. 30 Kilometer später die nächste Kontrolle. Tobias schaltet die Warnblinkanlage ein, um vom fehlenden Scheinwerferlicht abzulenken. Ob wir Waffen dabei hätten, will der Polizist diesmal wissen. Waffenschmuggel von Brasilien über Paraguay nach Bolivien sei ein großes Problem, erzählt er uns. Doch wir sind nicht die, nach denen er Ausschau hält – und so dürfen wir auch dieses Mal unbehelligt weiter fahren. An der nächsten Straßenkreuzung machen wir Halt. Ein Straßenschild weist den Weg nach Lichtenau, Neu-Halbstadt, Karlsruhe, Schönau, Blumenort und Neuland.

 

Immer wieder haben wir auf unserer Reise Mennoniten angetroffen: in Belize, in Mexiko, in Bolivien. Doch hier in Paraguay hat das Mennonitentum eine ganz andere Dimension. Nicht nur ein Ort oder eine Siedlung ist hier in mennonitischer Hand, sondern ein ganzer Landstrich. Die drei Kolonien, Menno, Fernheim und Neuland, haben ein eigenes Verwaltungssystem und eine perfekte Infrastruktur. Es gibt mennonitische Autohändler, Supermärkte, Einkaufszentren, Schulen, Altenheime, Krankenhäuser. Ein Staat im Staate. Wir staunen nicht schlecht, als wir durch Neu-Halbstadt fahren. Nicht nur die großen, modernen Backsteinhäuser erregen unsere Aufmerksamkeit, sondern vor allem auch die gepflegten Gärten mit englischem Rasen und blühenden Büschen – und das, wo es doch im Chaco kein Wasser gibt. Sowohl das Wasser der Lagunen und Tümpel als auch das Grundwasser ist stark salzhaltig. Ackerbau ist aus diesem Grund nicht möglich. Nur Viehzucht. Die Menschen, die hier leben, so erfahren wir später, sammeln Regenwasser in Zisternen. Wenn die Zisternen leer sind, müssen sie Wasser zum Kochen, zum Waschen, zum Gießen kaufen.

 

Vor dem Supermarkt in Loma Plata sprechen uns Iris und Daniel an. Die beiden kommen aus Deutschland, wohnen seit Oktober letzten Jahres im Chaco und sind keine Mennoniten, sondern Zeugen Jehovas. Ob wir etwas bräuchten, fragt Daniel. Einen Lötkolben, antwortet Tobias, damit er den defekten Lichtschalter reparieren kann. Daniel hat einen – und so werden wir kurzerhand nach Hause und zum Essen eingeladen und verbringen einen spannenden Nachmittag auf der Terrasse. (Vielen Dank, Iris, Daniel und Johann, für eure Gastfreundschaft!)

 

Von den beiden bekommen wir auch den Tipp, ins Hinterland des Chaco zur Laguna Yaraguay zu fahren. Hier und an der Laguna Bombacha bekommen wir einen kleinen Eindruck, wie der Chaco wohl im Sommer aussieht, wenn sich der staubige und trockene Lehmboden in ein Feuchtgebiet wandelt – in die berühmt berüchtigte „grüne Hölle des Chaco“. Die Laguna Capitan N° 1 liegt inmitten eines Naturreservats, das hervorragende Möglichkeiten zum Wandern 

und zur Tierbeobachtung bietet. Jetzt im Juli – es ist Winter in Paraguay – ist die Lagune allerdings nahezu ausgetrocknet. Nur noch eine kleine Pfütze Wasser glitzert in ihrer Mitte. Der Rand darum herum ist weiß, mit braunen, haarigen Flecken – vertrocknete Algen im Salz. Knorrige Baumstümpfe geben der Szenerie etwas Bizarres. Eine Unmenge an Tierspuren führt vom Wasserloch ins Unterholz. Der Busch ist dicht, dornig und nahezu undurchdringlich. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die ersten mennonitischen Siedler im Jahre 1927 sich mit Ochsenkarren über hunderte von Kilometern einen Weg durch dieses Dickicht gebahnt haben – und dass kurze Zeit nach der Besiedelung ein grausamer Krieg ums Erdöl im Chaco gewütet hat – an dem die Mennoniten freilich nicht beteiligt waren, da sie jegliche Gewalt ablehnen.

 

Die Wirtsleute des Bildungs- und Freizeitzentrums an der Laguna Capitan sind deutschstämmige Mennoniten, die über Kanada nach Paraguay eingewandert sind. Anna und Franz freuen sich über Gäste aus Deutschland und laden uns spontan zum Abendessen ein. Erst wird Tereré getrunken, das Nationalgetränk Paraguays, das wir ja schon aus Brasilien kennen. Bei Giso, einem typisch paraguayischen Gericht (Fleisch wird im gusseisernen Topf auf dem offenen Feuer geschmort und kurz vor dem Servieren mit Nudeln in Tomatensoße gemischt), plaudern sie in einem lustigen Gemisch aus Plattdeutsch, Hochdeutsch, Englisch und Spanisch aus dem Nähkästchen.

 

Der Grundgedanke der mennonitischen Gesellschaft ist es, ungestört und in Ruhe ein Leben weit weg vom Rest der Welt zu führen. Sie wollen keine Politik betreiben und keine Reichtümer anhäufen. Sie wollen ihre eigene Religion ausüben, ihre eigene Sprache sprechen und diese auch unterrichten. Als die kanadische Regierung in den 1920er-Jahren darauf bestand, dass die in Kanada lebenden Mennoniten Englisch sprachen, suchten viele Mennoniten nach einer neuen Heimat. Paraguay räumte ihnen die entsprechenden Sonderrechte ein – unter der Voraussetzung, dass sie das lebensfeindliche Gebiet des Chaco bewirtschafteten und urbar machten. 1927 startete die große Chaco-Expedition vom Rio Paraguay aus mit Wagen-Treks in die Wildnis. Heute sind die Mennoniten-Kolonien ein bedeutender Wirtschaftsfaktor Paraguays. Den Mennoniten gehört die größte Milchfabrik des Landes (500.000 Liter Milch pro Tag) sowie der größte Schlachthof der Landes (7.000 Tonnen Fleisch pro Tag). Die meisten Bürger sind Mitglied einer Produktionskooperative, die von einem Komitee geleitet wird und wiederum einer der drei Kolonien angehört. Die Mitglieder verkaufen ihre produzierten Güter an die Kooperative, die für die Weitervermarktung sorgt. Der Ertrag, den die Kooperative erzielt, dient der Finanzierung von Krankenhäusern, Schulen, Altenheimen sowie dem Ausbau der Produktionsstätten. An sich ein geschlossener Kreislauf. Doch durch die Dimension, die das Ganze angenommen hat, hat auch eine gewisse Zuwanderung von außen stattgefunden. Nicht-Mennoniten, sowohl weißhäutige als auch Indigenas, wollen teilhaben an dem Erfolg der Mennoniten. Doch im mennonitischen System ist eine Interaktion mit dem Rest der Welt nicht vorgesehen – und auch nicht erwünscht. Nicht-Mennoniten können keine „Bürger“ der Kolonien werden und auch kein Land erwerben. Die Probleme sind vorprogrammiert. Das mennonitische System, das bisher auf gegenseitiger Achtung, Vertrauen und den biblischen Grundsätzen beruhte, befindet sich im Umbruch. Lange diskutieren wir mit Anna und Franz über die guten und schlechten Seiten eines mennonitischen Systems. Als am Ende des Abends noch Giso übrig ist, packt Anna den Rest in eine Plastikbox und gibt sie Tobias mit. So ein langes Elend, sagt sie, kann das ja am nächsten Morgen zum Frühstück essen. Tobias lässt sich natürlich nicht lange bitten. (Vielen Dank, Anna und Franz, für eure Gastfreundschaft!)

 

Von wegen langes Elend … da die meisten Mennoniten auch eher groß und schlank sind, fahren wir nach Filadelfia in den dortigen Supermarkt, um Tobias eine neue Hose zu kaufen. Es ist zwar nicht ganz so einfach, wie wir uns das vorgestellt hatten – denn, so erzählt uns die Dame hinter dem Tresen, die Mennoniten haben da ähnliche Passform-Probleme mit den Markenhosen wie Tobias – aber am Ende werden wir fündig. Endlich gibt es keine mitleidigen Blicke mehr, weil Tobias’ Hosen knapp über den Waden enden … Doch das ist noch nicht alles. In der Lebensmittelabteilung schlagen wir noch mal so richtig zu: Echte Landjäger gibt es da, Leberkäse, Weißwürste – und vor allem Schwarzbrot mit echter Kruste. Dinge, die wir seit Monaten nicht mehr gegessen haben, wandern in unseren Einkaufskorb. Der Abschied von Paraguay wird zu einem kulinarischen Fest. Mit vollen Bäuchen begeben wir uns auf die lange Reise zur bolivianischen Grenze. 400 Kilometer fahren wir auf einer menschenleeren Asphaltstraße durch den Chaco. Nur selten kommt uns ein Fahrzeug entgegen. Siedlungen oder auch Haciendas gibt es hier so gut wie nicht mehr. Auch der Grenzposten wirkt verlassen. Das Häuschen des  paraguayischen Grenzbeamten steht neben dem des bolivianischen. Sie teilen sich einen Vorgarten und einen Gärtner. Der paraguayische Beamte fertigt uns leger in Jeans und T-Shirt ab – nicht ohne sich hundertmal dafür zu entschuldigen. Aber heute ist Wasch- und Reinemachetag und deshalb trägt er keine Uniform. Als wir vom bolivianischen Zollhäuschen zurückkommen, ist der Kollege aus Paraguay gerade dabei, mit dem Gartenschlauch seine Amtsstube durchzuspülen. Ja, um diese Jahreszeit ist es staubig im Chaco.


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