Reisebericht 28 vom 25.06.07 – 15.07.07: Brasilien - Über 118 Brücken musst du gehen ...


Route: Cacerés – Poconé – Porto Cercado – Transpantaneira Norte – Porto Jofre – Cuiabá – Chapada dos Guimarães – Campo Verde – Rondonópolis – Coxim – Rio Verde de Mato Grosso – Perdigão – MS 419 – Transpantaneira MS 228 – Estrada de Parque – Porto da Manga – Miranda – Bodoquena – Jardim – Dourados – Foz de Iguaçu


»Alemão (deutsch)?«, fragt der brasilianische Grenzbeamte auf Portugiesisch und zeigt auf unser Auto. Colin schüttelt den Kopf und antwortet auf Spanisch: »No, Alemania (Nein, Deutschland)«. Der Beamte schaut erst irritiert, dann lacht er und quasselt munter drauf los. Das brasilianische Portugiesisch hört sich hart an, fast wie eine osteuropäische Sprache. Außerdem klingt alles gleich und endet auf –au. Wir verstehen nur Bahnhof. Doch das stört hier in Brasilien niemanden. Brasilianer unterhalten sich für ihr Leben gern. Und mit einem Lächeln, einer Geste, mit ein paar Brocken Spanisch, ein bisschen Englisch, manchmal sogar mit Deutsch kommt man ganz gut durch. Der Beamte wollte unsere Impfpässe sehen, denn für die Einreise nach Brasilien ist eine Gelbfieber-Impfung vorgeschrieben. Wer sie noch nicht hat, bekommt sie kostenlos an der Grenze. Service auf brasilianisch. Als gut erzogene Europäer haben wir die Gelbfieberimpfung selbstverständlich schon in der Heimat machen lassen – und dort teures Geld dafür bezahlt. Der Grenzbeamte ist zufrieden und streckt den Daumen nach oben, was in unserem Fall soviel heißt wie »Alles ok. Und tschüß«. Daumen nach oben kann aber auch »Hallo, wie geht’s?«, »Danke, gut« und so weiter heißen. Portugiesisch – zumindest die brasilianische Version davon – ist doch eigentlich ganz einfach.

 

Der Pantanal ist das größte zusammenhängende Feuchtgebiet der Erde. Der Pantanal besteht aus Flüssen, Kanälen, Seen, Savannen, Wäldern und ist an drei Seiten von roten Felswänden umgeben. Und er ist bekannt dafür, dass es an seinen Wasserlöchern jede Menge Tiere zu sehen gibt. Berüchtigt – vor allem unter Reisenden mit eigenem Fahrzeug – ist der Pantanal allerdings für seine Brücken, oder besser gesagt für den schlechten Zustand seiner Holzbrücken.

 

Bevor wir die Transpantaneira Norte in Angriff nehmen, biegen wir in Poconé erst einmal Richtung Porto Cercado ab, weil es hier an einer ganz bestimmten Brücke tausende von Kaimanen geben soll. Und tatsächlich sind sie überall. Sie sonnen sich am Ufer, sie dösen unter der Brücke, sie gleiten durchs Wasser, sie kommen unter den Büschen hervor und sie liegen sogar in den Baugruben entlang der Straße. Als wir umdrehen, kommt uns ein Truck entgegen. Ein blauer. Nichts außergewöhnliches, normalerweise. Doch dieser gehört Isabella und Peter aus Neumarkt, die wir schon in Kolumbien getroffen haben. Und so sitzen wir also diese Nacht zu sechst am Wasserloch und leuchten abwechselnd mit unseren Taschenlampen die Kaimane an: Isabella und Peter, Liz und Colin, Tobias und ich. Das Wasserloch scheint beliebt zu sein, denn um uns herum wimmelt es nur so von Tierspuren, darunter auch jede Menge kleine und große Katzentatzen. Womöglich ein Jaguar? Als ich mitten in der Nacht aus dem Auto klettere, um auf die Buschtoilette zu gehen, huscht plötzlich ein Schatten an mir vorbei. Er hat vier Beine und einen langen Schwanz. »Ein Tier. Mach schnell.« Aufgeregt rüttele ich Tobias wach und dann stehen wir beide vor dem Auto und richten unsere Taschenlampen auf ein kleines, pelziges Etwas, das uns mit großen Kulleraugen ansieht. Das Etwas erinnert entfernt an einen Waschbären, nur mit einem dickeren Hinterteil. »Ein Marsupial«, weiß Tobias, »ein opossumartiges Greifschwanztier«. Am nächsten Morgen gehen wir auf Spurensuche und entdecken in unseren Reifenspuren frische Katzenabdrücke. War hier nachts ein Jaguar unterwegs – und wir haben ihn verpasst? Wir beschließen, uns hier eine Nacht lang auf die Lauer zu legen – nachdem wir die Transpantaneira Norte gefahren sind. Die Transpantaneira wurde als Dammpiste angelegt. Sie verbindet Poconé mit Porto Jofre, ist 149 Kilometer lang und führt über 118 Brücken, von denen nur eine einzige betoniert ist. Die restlichen 117 Brücken sind aus Holz und vor der Betonbrücke bei Pixaim in recht gutem Zustand. Von den Brücken, die danach kommen, haben wir schon die abenteuerlichsten Sachen gehört…

 

Die Fahrt auf der Transpantaneira gleicht einem Besuch im Zoo. Selbst am kleinsten Wasserloch tummeln sich Kaimane, liegen manchmal sogar übereinander. Riesige Jaburu- bzw. Tuiuiu-Störche, die Symbolvögel des Pantanal, sitzen in ihren Nestern hoch oben auf den Bäumen, so dass man nur noch den schwarzen Kopf und die rote Halskrause sieht. Capivaras, Sumpfschweine, die größten Nagetiere der Welt, die aussehen wie zu groß geratene Meerschweinchen, kreuzen seelenruhig vor uns die Straße. Pantanal-Hirsche spitzen mit ihren großen, plüschigen Ohren aus dem Unterholz. Wir sehen Papageien, Tukane, Reiher, Ibisse, Nandus, Eulen, Habichte, Geier. Wir können uns gar nicht satt sehen an diesem Tierreichtum. Hinter Pixaim ändert sich die Landschaft. Der Wald und die Büsche werden weniger. Irgendwann schauen wir links und rechts auf eine freie Wasserfläche, aus der nur noch vereinzelt Bäume herausragen. Dafür nimmt die Anzahl der Brücken zu. Und ihr Zustand wird schlechter. Manche Brücken sehen so instabil aus, dass wir sie ablaufen, ab und zu ein paar lose Bretter zurecht schieben, damit die Spurbreite wieder stimmt, um dann in Schritttempo, auf jedes Knackgeräusch achtend, langsam und vorsichtig darüber zu fahren. Die Brücken tragen angeblich 8 Tonnen, sagen die Schilder. Doch schon bei Colins Viereinhalbtonner geraten einige der wackligen Konstruktionen mächtig ins Schwanken. An diesem Abend warten wir vergeblich auf Isabella und Peter.

 

Bei Porto Jofre endet die Transpantaneira Norte direkt am Fluss. Eine Nord-Süd-Verbindung gibt es nicht. Liz und Colin wollen einige Tage auf einer Fazenda verbringen – und so trennen sich hier unsere Wege. Tobias und ich fahren – über 118 Brücken – zurück zum Wasserloch mit den vermeintlichen Jaguar-Spuren. Direkt auf dem Abdruck von Tobias’ Schuhsohle prangt ein frischer Katzenabdruck. Das sieht nach einer schlaflosen Nacht aus. Doch bereits um sieben Uhr liege ich im Bett. In meinem Kopf rollt eine Bowlingkugel von einer Seite auf die andere, meine Augen schmerzen bei jeder Bewegung und auf meiner Stirn könnte man Spiegeleier braten. Tobias hält die Stellung, doch ich verpasse nichts. Kein Jaguar. Lediglich eine Schlange hat den Weg gequert. Mehr nicht. Dafür läuft, als wir gerade gemütlich beim Frühstück sitzen, ein Kaiman an uns vorbei aufs Wasserloch zu.

 

Auf dem Weg nach Cuiabá kommen uns Karin und Coen mit ihrem Toyota entgegen. Wir tauschen ein paar Infos aus, verschieben ein längeres Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt. Ich habe noch immer Kopfschmerzen und Fieber. Wir überlegen, ob ich einen Malaria-Test machen soll oder nicht – doch am nächsten Tag ist alles wie weggeblasen. Vielleicht doch nur eine Erkältung.

 

Cuiabá ist der geografische Mittelpunkt Südamerikas, hat aber sonst nichts Interessantes zu bieten. Cidade de Pedra, im Nationalpark Chapada dos Guimarães gelegen, ist dagegen ein fantastischer Ort, um die Abbruchkante des Pantanal im Abendrot leuchten zu sehen, und um die rot-blauen Scarlet-Macaws dabei zu beobachten, wie sie abends in ihre Höhlen im Fels zurückfliegen.

 

Über Campo Verde und Rondonópolis fahren wir ums Pantanal herum auf seine Südseite. Die Strecke ist wenig abwechslungsreich. Baumwolle links, Mais rechts. Dann Soja rechts, Reis links. Danach wieder Baumwolle … und so weiter. Hunderte von Kilometern lang. Die einzigen Highlights entlang der Strecke sind die Rodizios.Rodizios sind eine brasilianische Spezialität. Es gibt sie mittags und abends an den Truckstops oder an Wochenenden in den Restaurants. Rodizios sind quasi All-you-can-eat-Buffets mit Salaten, kalten und warmen Beilagen, manchmal auch mit vollwertigen Hauptgerichten – immer aber mit gegrilltem Fleisch am Spieß. Das Besondere daran: Der Kellner bringt den kompletten, riesigen Fleischspieß an den Tisch, man sucht sich das Stück Fleisch aus, das man gerne hätte, sticht mit der Gabel hinein und hält es fest, während der Kellner es gekonnt mit einem scharfen Messer absäbelt. Doch damit nicht genug, denn schließlich gibt es ja nicht nur einen Spieß, sondern mehrere. Während man also noch am gut durchgebratenen Lendenstück kaut, kommt der Kellner schon mit dem nächsten Spieß. Diesmal Hüftsteak. Dann Nackensteak. Und so geht das weiter, bis die Kuh durch ist. Danach fängt das Spiel von vorne an. Das Schlimme daran: Das Fleisch in Brasilien ist so lecker, dass man die Beilagen vergisst. Nach dem Essen gibt’s einen Verdauungsschnaps – natürlich auch im Buffet-Stil, also Selbstbedienung aus der Flasche. Das Witzige daran: Die Flaschen mit dem Cachaca-Zuckerrohrschnaps gibt es auch an den Truckstops.

 

Uns fällt auf, dass immer wieder Straßen nach Westen abzweigen, also ins Pantanal hineinführen. Eine dieser Straßen nennt sich »Transpantaneira MS 214«. Führt sie tatsächlich durchs Pantanal? Laut Reiseliteratur ist der Pantanal nur mit dem Boot durchquerbar. In Coxim, einer netten Kleinstadt, schicke ich Tobias los, um eine Straßenkarte der Region zu kaufen. Er kommt ohne Karte zurück, dafür aber mit einer Einladung. Fünf Minuten später sitzen wir bei Marcos im Wohnzimmer, trinken kühle Limonade und warten, bis der Farbdrucker die Ausdrucke der Militär-Regierungs-Detailkarten des südlichen Pantanal ausspuckt. Und siehe da: Es gibt nicht eine Straße, die durchs Pantanal führt, es gibt drei. Alle enden in Corumba an der bolivianischen Grenze. Ariel, ein Freund von Marcos, führt Touristen auf organisierten Touren durchs Pantanal. Von ihm erfahren wir mehr über die Straßenzustände, über mögliche Routen und Alternativen und über die Fazendas, die wir queren müssen, wenn wir das Pantanal in Ost-West-Richtung durchqueren wollen. Wir wollen. Kurz hinter Rio Verde biegen wir von der asphaltierten Straße auf die staubige Lehmpiste MS 419 ab. Schon bald hören wir über unseren Köpfen das laute kehlige Gekrächze von Aras.  Blaue Aras mit gelben Bäuchen fliegen paarweise über uns hinweg, lassen sich in den Bäumen und Palmen neben uns nieder. Auch andere Vögel schwirren durch die Luft: kleine grüne Papageien, schwarze Papageien mit weißem Kopf, kleine Vögel mit zitronengelbem Bauch, und solche mit rotem Kopf. Manchmal ist das Gezwitscher so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht mehr verstehen. Ich wünsche mir für den Nachmittag einen Ameisenbären.

 

Irgendwann biegen wir auf die MS 228 ein. Eine Erdpiste, die einmal quer durchs Pantanal bis nach Corumba führt. Mit losem Tiefsand im Mittelteil. Mal sehen, wie weit wir kommen. Wir kommen bis zur sechsten Brücke. Hier spricht uns Oliveira an und lädt uns auf seine Fazenda ein. Oliveira ist früher selbst viel gereist, auf seiner Harley. Seine Freundin, Lucia, ist Künstlerin und war 23 Jahre lang mit dem größten Irrtum ihres Lebens verheiratet. Danach hatte sie eine Beziehung mit einem Deutschen. Ebenfalls ein Irrtum, aber ein kleinerer, gesteht sie augenzwinkernd. Oliveira lacht nur. Er will wissen, ob wir ihren deutschen Exfreund kennen. Wir kennen ihn nicht. Macht aber nichts. Lucias Sohn, Paolo, ist eigentlich Rechtsanwalt, kocht aber lieber. Zur Zeit arbeitet er an einem Buch über die typische Küche des Pantanal. Morgen soll es ein Gericht mit Jacaré, Kaiman, geben, verrät er uns. Das Problem: Er hat noch keinen Kaiman. Wir sitzen auf der Terrasse und trinken Tereré. Immer wieder füllt Oliveira kaltes Wasser in den Becher mit dem Mate-Tee und reicht ihn von einem zum anderen. Getrunken wird der Tee mit der Bombilla, einer Art Löffel

mit Strohhalm im Stiel. Danach zeigt uns Oliveira die Farm. Die Farm ist 600 Hektar groß. Für brasilianische Verhältnisse ziemlich klein. Er besitzt 5.000 Rinder. Auf der Farm seines Vaters, die gleich an seine grenzt, gibt es weitere 5.000 Rinder. Ebenfalls ziemlich wenig – verhältnismäßig. Wir fahren mit zwei Autos – er mit seinem, wir mit unserem – und wir fahren offroad, sagt Oliveira und fügt hinzu: »Mit eurem Auto ja kein Problem«. Dann gibt er Gas und heizt quer über die Wiese, eine Zeitlang folgen wir einem Pferdetrack, der durchs hohe Gras führt, wir fahren durch Wasserlöcher, über hüfthohe Büsche und quer durch den Wald. Unser Dachgepäckträger nimmt alles mit, was ihm im Weg ist: Blätter, Zweige, dünne Äste – so lange, bis der Baum stärker ist als wir. Ich steige aus und hebe den Ast über unsere Frontscheinwerfer – weiter geht’s. Tobias hat sichtlich Spaß an dieser Ralley durchs Gelände. Das erste Tier, das wir sehen, ist ein Ameisenbär. Richtig, der war ja bestellt. Danach sehen wir Capivaras, Störche, jede Menge Wasservögel – und einen Kaiman. Sofort packt Oliveira seine Flinte, die auf der Ladefläche seines Pick-ups liegt, legt an, zielt und drückt ab. Die Kugeln schlagen im Wasser auf.  Der Kaiman taucht unter und nicht wieder auf. Am nächsten Morgen tritt die Jagdgesellschaft erneut an, entschlossen, Paolo das für sein traditionelles Gericht benötigte Kaimanfleisch zu liefern. Zuerst geht’s zurück ans Wasserloch von gestern. Oliveira will nachsehen, ob er den Kaiman vielleicht doch getroffen hat und dieser nun mit dem Bauch nach oben im Wasserloch treibt. Doch dem ist nicht so. Weit und breit kein Kaiman zu sehen. Also geht es weiter ans nächste Wasserloch. Davon gibt es ja genügend auf seinem Grundstück. Der Kaiman döst auf einer Sandbank in der Sonne. Die erste Kugel trifft seine Pfote, die zweite seinen Kopf. Die Kinder des Farmverwalters, die mit dabei sind, jubeln. Sofort waten alle durch den Sumpf, hinüber auf die Sandbank, um dem Kaiman mit Stockhieben den Rest zu geben. Doch der rührt sich schon längst nicht mehr. Er wird am Schwanz gepackt, an Land gezogen und auf die Ladefläche des Pick-ups geworfen. Der Kaiman, im Übrigen eine Kaimane-Dame, ist etwa 1,50 Meter lang und ziemlich schwer. Zurück am Haus übernimmt Paolo, der Koch, das Kommando. Der Kaiman wird gewaschen, geschrubbt, dann wird ihm der Schwanz abgeschnitten. Lediglich das Fleisch des Schwanzes sowie die Seitenstücke zwischen den Vorder- und Hinterbeinen werden verwendet. Der Rest ist für die Geier. Als nächstes schält Paolo die Haut vom Kaimanschwanz und beginnt, das Fleisch fachmännisch zu zerlegen. Das Fleisch ist hell, wie bei einem Hühnchen – und es schmeckt auch so. Theoretisch, so verrät uns Paolo, kann man jedes Kaiman-Gericht auch mit Geflügel zubereiten. Vielleicht war der Kaiman zu klein. Denn kaum brutzelt er im Kochtopf vor sich hin, da macht sich Paolo daran, die beiden Truthähne einzufangen, die gackernd über den Hof laufen. Auch auf sie wartet der Kochtopf. Mit vollem Bauch und voller neuer Eindrücke machen wir uns wieder auf die Weg durchs Pantanal. (Muito obrigado, Lucia e Oliveira.)

 

Der Pantanal ist im Mittelteil trocken und sandig. Der Landy schwimmt auf dem losen Sand. Immer wieder sitzen wir auf, weil die von LKWs in den Sand gefahrenen Spuren für uns einfach zu breit sind. Die Landschaft um uns herum bietet wenig Abwechslung. Farm- und Weideland, ab und zu ein paar Rinder, hin und wieder ein paar Tukane, Papageien, einige Pantanalhirsche. Bei Curva do Leque trifft die MS 228 auf die alte Dammstraße, die Estrada Parque do Pantanal. Ab hier liegen links und rechts der Straße Wasserflächen so weit das Auge reicht. Ganze Capivara-Clans sitzen auf der Straße und schauen uns desinteressiert hinterher. Tobias kann die Landschaft nicht genießen. Trotz bedecktem Himmel hat er seine Sonnenbrille aufgesetzt. Seit einigen Tagen schon schmerzen seine Augen und wenn er den Kopf bewegt, fühlt es sich an als würde sein Gehirn mit Verzögerung gegen die Schädelwand knallen. Nun hat er auch noch Fieber. Anders als bei mir scheint es bei ihm von Tag zu Tag schlimmer zu werden. Vorsichtshalber schluckt er eine Malaria-Tablette und überlässt mir das Steuer – freiwillig. Ein schlechtes Zeichen. In Corumba gibt es ein Krankenhaus. 65 Kilometer sind es von Curva do Leque bis nach Corumba, 50 Kilometer etwa sind es noch von der Fähre über den Rio Paraguay bis in die Stadt. Doch wir haben Pech. Eine der letzten Brücken vor Corumba ist nicht passierbar. Nur noch Motorräder und Fußgänger können die Brücke queren, erklärt uns ein Motorradfahrer. Doch selbst zu Fuß hätten wir da so unsere Bedenken. Wir breiten die Landkarte aus und beraten uns. Tobias braucht einen Arzt, da führt kein Weg daran vorbei. Wir entscheiden uns für Miranda – falls es dort keinen Arzt gibt, könnten wir gleich weiter in die Hauptstadt des Departementos, nach Campo Grande fahren. Im Klartext heißt das: fast sechzig Kilometer wieder zurück auf der alten Dammstraße, die im oberen Teil noch immer an manchen Stellen unter Wasser steht, anschließend 50 Kilometer auf einer Schotterpiste, über etwa 80 Holzbrücken, bis zur Asphaltstraße nach Miranda. Ein langer Weg. Obwohl wir es eilig haben, fahre ich ganz langsam, um jede unnötige Erschütterung zu vermeiden und natürlich auch, um entlang der Straße nach Tieren Ausschau zu halten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir das Krankenhaus in Miranda. Während Tobias von einer Schwester ins Behandlungszimmer geführt wird, erledige ich an der Anmeldung den Papierkram. Während Tobias eine Glukose-Infusion verabreicht bekommt, organisiere ich uns einen sicheren Stell- und Übernachtungsplatz im Innenhof. »Kein Grund zur Beunruhigung«, erklärt mir die Ärztin, »es ist nur Dengue«.

80% der Einwohner Mirandas hatten dieses Jahr schon Dengue-Fieber. Und alle haben über Schmerzen in den Augen geklagt. Typisch für Dengue seien außerdem die extremen Kopfschmerzen und ein Hautausschlag am Bauch, erzählt die Ärztin weiter. Dengue ist für sie reine Routine. Zwei Stunden später ist Tobias’ Kreislauf wieder stabil, der Patient entlassen. Kopfschmerzen und Fieber hat er immer noch. Dagegen soll er Paracetamol in einer hohen Dosis nehmen – doch die Tabletten müssen wir uns selbst aus der Apotheke holen. Wir haben noch Tabletten im Auto und verschieben den Apothekenbesuch auf den nächsten Morgen. Als ich noch einmal nachfrage, ob es wirklich in Ordnung sei, dass wir die Nacht im Auto auf dem Innenhof verbringen, herrscht auf einmal hektische Betriebsamkeit. ich befürchte schon, dass wir unseren Parkplatz neben dem Krankenwagen aufgeben müssen, doch da habe ich die Gastfreundschaft der Brasilianer unterschätzt. Im Auto schlafen kommt gar nicht in Frage – stattdessen richtet man uns ein Krankenzimmer für die Nacht, mit zwei Betten und privatem Bad. Als wir am nächsten Tag unsere Rechnung begleichen wollen, winkt der Herr am Empfang ab. Alles gratis. Wir revanchieren uns, indem wir eine der Krankenschwestern, die gerade Dienstende hat, mit ins 60 km entfernte Bodequena nehmen. Dort steigt sie am Centro do Saude (dem Gesundheitszentrum) aus, um gleich eine zweite Schicht dranzuhängen.

 

Wir biegen nach Bonito ab – und stehen schon wieder vor einer Brücke, die uns zur Umkehr zwingt. Bauarbeiter setzen sie gerade erst wieder instand. Wieder müssen wir den ganzen Weg, den wir gekommen sind, zurück. Wir streichen Bonito und fahren nach Jardim, neben Bonito dem zweiten großen Touristenzentrum im südlichen Pantanal. Der Ort macht uns überhaupt nicht an, daran ändern auch die Hauptattraktionen nichts: Um mit den Fischen im Fluss zu schnorcheln ist es zu kalt (11°C) und Papageien haben wir schon so viele gesehen, dass wir nicht bereit sind, für den Besuch eines Felsenkessels, in dem sich vielleicht (!) Papageien aufhalten, Eintritt zu bezahlen. Auch eine Tour auf eine Fazenda reizt uns nicht, denn schließlich haben wir unseren Fazenda-Aufenthalt schon hinter uns. authentischer wird’s nicht. Gerade als wir die Stadt Richtung Süden verlassen wollen, kommen uns Karin und Coen entgegen. Und wieder fällt unser Treffen kurz aus, denn die beiden wollen noch über die Grenze nach Paraguay. Vielleicht, so verabreden wir uns vage, trifft man sich ja in Foz do Iguaçu wieder.

 

Die Grenzstadt im Dreiländereck Brasilien – Paraguay – Argentinien, Foz do Iguaçu, liegt im europäisch geprägten Bundesstaat Paraná. Man merkt sofort, dass hier viele Deutsche eine zweite Heimat gefunden haben: verspielte Backsteinhäuschen mit Fensterstreben, Giebeldächern und Erkern, gepflegte Vorgärten mit Hecken und Zäunen, Schilder mit deutschen Namen und Bezeichnungen. Die Atmosphäre mutet fast ein bisschen surreal an. Wer im Kino die „Truman Show“ gesehen, weiß, wovon ich spreche.

 

Foz do Iguaçu hat drei Attraktionen, die sich gegenseitig den Rang ablaufen. Das eine sind die größten Wasserfälle Südamerikas, das andere der angeblich größte Staudamm der Welt (alles ist relativ) und das dritte ist die Freihandelszone in Ciudad del Este, die gleichauf der anderen Seite des Flusses liegt. Es besteht kein Zweifel daran, dass die meisten Brasilianer der günstigen Einkaufsmöglichkeiten wegen nach Foz do Iguaçu kommen. Doch auch für die, die den Nationalpark Iguaçu besuchen, sind die Wasserfälle, die immerhin 1986 zum Weltkulturerbe erklärt worden sind, reine Nebensache. Der Besuch der Wasserfälle ist ein „Event“ – so wird er zumindest verkauft. Nach Erwerb des Tickets, geht es mit dem Bus weiter durch den Park. Erste Station: Safari-Tour – mit dem Elektroauto durch den Wald, dann ein Stück zu Fuß und schließlich mit dem Boot zu den Wasserfällen. Nicht im Eintrittspreis

enthalten. Zweite Station: Erlebnis- und Abenteuer – mit dem Mountainbike durch den Wald, Abseilen, Canopy usw. Ebenfalls nicht im Preis enthalten. Dritte Station: Hotel und Restaurant, Souvenir-Shop und – endlich – Fußweg zur Aussichtsplattform. Es sieht so aus, als hätten wir für unseren Besuch der Wasserfälle den schlechtesten Tag des Jahres erwischt. Der ganze Himmel hängt in Wolken. Es nieselt leicht. Trübe Aussichten auf die Fälle. Doch je näher wir den Wasserfällen kommen, desto spektakulärer wird der Ausblick – trotz schlechtem Wetter. »Iguaçu« ist ein Guaraní-Wort und bedeutet »Großes Wasser« - und groß sind die Wasserfälle in der Tat. An der Abbruchkante des Santa Maria Wasserfalls führt ein Steg in die Mitte des Flusses. Von hier hat man einen fantastischen Blick über die Fälle, bis hin zum Teufelsschlund. Die Iguaçu-Wasserfälle sind beeindruckend. Doch die künstliche Infrastruktur darum herum überlagert das Naturschauspiel so sehr, dass der Eindruck, den die Fälle bei uns hinterlassen, eher schwach ist. Ein echtes Highlight ist dagegen der Vogelpark, gleich gegenüber dem Eingang zu den Wasserfällen. In schönem und authentischem Ambiente können wir hier noch einmal all die Vögel ausführlich beobachten und aus der Nähe betrachten, die wir schon in der freien Natur gesehen haben. Wir können uns gar nicht satt sehen an den farbenprächtigen tropischen Vögeln. Vor allem die Papageien haben es uns angetan. Mehrere der Großraum-Volieren dürfen betreten werden. Die Tiere sind mittlerweile an Menschen gewöhnt und eher frech als scheu. Ein Tukan beißt mich kurzerhand ins Hosenbein als er merkt, dass ich keinen Leckerbissen für ihn habe. Und im Papageien-Käfig müssen wir mehrmals die Köpfe einziehen, um nicht über den Haufen geflogen zu werden. Irgendwie erinnern uns die Flugfertigkeiten der tropischen Vögel an die Fahrkünste der

Südamerikaner … Kann das Zufall sein? Es kommt wie es kommen muss: Auf der Freundschaftsbrücke, die Brasilien mit Paraguay verbindet, kommt uns ein Toyota entgegen. An Bord Karin und Coen – und wieder keine Möglichkeit auf einen ausgiebigen Plausch. »Wir sehen uns in Argentinien«, rufen wir uns aus dem Autofenster zu – dann lassen wir Brasilien hinter uns und betreten Neuland. Neuland? Dazu mehr im nächsten Reisebericht.


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