Noch voll der Eindrücke vom Tiji-Festival, aber auch schon voller Vorfreude auf die bevorstehende Expedition verlassen wir Lo Manthang und machen uns – natürlich zu Fuss – auf nach Yara, wo wir die Expeditions-Mannschaft treffen sollen. Einsame Pfade ziehen sich die kargen Bergrücken entlang und ein steiler und staubiger Canyon führt uns zunächst nach Dhi, einem kleinen Ort, in dem wir Mittagspause machen. Am frühen Nachmittag erreichen wir Yara, wo die 16-köpfige Expeditionsmannschaft bereits auf uns wartet – sie besteht aus einem Expeditionsleiter, zwei Köchen, Climbing Sherpas und natürlich den Trägern, die das Rückgrat einer Expedition bilden, da ohne sie das benötigte Material gar nicht auf den Berg käme. Da wir davon ausgehen, dass wir ca. 12 Tage meist abseits der Zivilisation unterwegs sein werden, müssen wir neben Zelten und Bergausrüstung auch die komplette Verpflegung inklusive Kerosin-Kocher, Treibstoff und Geschirr dabei haben. Zwischen Yara und dem Naar-Phu-Valley gibt es keine Infrastruktur mehr, so dass wir komplett autark sein müssen.
Saribung Pass und Peak
Während wir unsere Trägermannschaft am nächsten Tag auf direktem Weg auf die erste Tagesetappe nach Guma Thanti schicken, machen wir noch einen Abstecher in das Kloster Luri Gompa, das 400 m hoch über einer Schlucht auf zwei Felsspitzen „schwebt“. Nach einem kurzen steilen Anstieg stehen wir erst einmal vor verschlossenen Türen. Fast eine Stunde warten wir, dann nähert sich unten endlich der Lama – mit einer Kanne voll Butter für die Butterlampen und dem Schlüssel. Das Kloster ist bekannt für seine alten, gut erhaltenen Wandmalereien. Und das Kloster ist heute noch aktiv. Unser Guide entzündet noch eine Butterlampe für eine erfolgreiche Expedition, dann geht es auch schon weiter. Zuerst wieder hinab in die Schlucht und dann auf der Gegenseite wieder steil und weglos hinauf.
Schon der erste Tag unserer Expedition hat es in sich. Von Yara (auf 3650 m gelegen) steigen wir in Summe 1600 Höhenmeter auf, nehmen noch einen am Weg liegenden namenlosen 5000er-Gipfel mit und schlagen unser erstes Camp in Guma Thanti auf ca. 4600 m auf. Guma Thanti liegt tief unten in einer Wüstenschlucht am Lauf eines ausgetrockneten bzw. zu Eis erstarrten kleinen Flusses. Unterwegs geniessen wir, dank des guten Wetters, immer wieder tolle Blicke auf den Dhaulaghiri. Die Landschaft wirkt, wie so oft in Mustang, bizarr: Wüstenlandschaft mischt sich mit Schnee und Eis und läuft man in der einen Minute noch durch eine Steinwüste, so erwarten einen hinter der nächsten Kurve plötzlich Eisterrassen und gefrorene Wasserfälle, umrahmt von weiss eingeschneiten Bergspitzen und verschneiten Wüstenhügeln.
Auf dem weiteren Weg nach Batsyak Khola überqueren wir unseren sechsten High Pass (= Pass höher als 5000 m) - den Kyumu La – und besteigen den Kyumupani Peak (5565 m). Am Nachmittag setzt heftiger Schneefall ein und bedeckt unsere Zelte in kürzester Zeit mit einer dicken Schneeschicht. Am nächsten Tag wollten wir eigentlich den ersten von zwei geplanten 6000ern besteigen – der starke Schneefall macht uns dabei etwas Sorge. Am nächsten Morgen ist jedoch, wie so oft im Himalaya um diese Jahreszeit, wieder strahlender Sonnenschein, allerdings sind nun alle Berge mit einer dicken Schneedecke überzogen. Auch unser Zelt ist dick zugefroren. Früh machen wir uns auf zur Überquerung unseres siebten High Pass (Batsyak La) und steigen steil und ausgesetzt auf den Passrücken auf. Die Expeditionscrew packt derweil das Lager zusammen und wird uns später auf einem einfacheren Weg über den Pass folgen. Wieder sind wir in der aufgehenden Sonne von einem prächtigen Farbenmix umgeben, der sich in der klaren Luft von Wüste, Schnee und Eis wiederspiegelt. Wir liegen gut in der Zeit und die Bedingungen sind besser als erwartet, so dass wir den 6087m hohen Damodar V. Peak in Angriff nehmen. Kurz vor Mittag stehen wir auf dem Gipfel und haben einen tollen Blick auf die angrenzenden Hochtäler bis über die Grenze nach Tibet, das Annapurna- und Dhaulagiri-Massiv sowie unserem nächsten Ziel – dem Damodar Himal und dem Saribung Peak (6346 m).
Am frühen Nachmittag erreichen wir die heiligen Seen von Damodar Kunda, wo unsere Crew bereits angefangen hat, das Lager aufzubauen. Die Seen sind für die Hindus heilig, weil hier die Quelle des Kali Gandaki vermutet wird. Wer das Wasser der Seen berührt, so heisst es, kann sich über ein gesundes Leben in Reichtum freuen. Selbstverständlich baden auch wir unsere Hände in allen Seen. Sicher ist sicher.
Der (zwar bereits 10 Tage alte) Wetterbericht hat für die nächsten Tage ein stabiles Schönwetter-Fenster angekündigt und danach für die geplanten Saribung Gipfeltage eher gemischtes Wetter. Auf Drängen des Expeditionsleiters und des Climbing-Sherpa überlegen wir, ob wir es durch Komprimierung der geplanten Tagesetappen und durch Streichen eines Akklimatisierungs- und Ruhetages schaffen, das Schönwetter-Fenster für die kritischen Gipfeletappen zu nutzen. Wir sind eher skeptisch – zwar sind wir durch die vorhergehenden Gipfel und die 30 Tage im Himalaya sehr gut akklimatisiert, jedoch haben wir Sorge wegen unserer Crew, da diese die entsprechende Akklimatisierung in unseren Augen nicht mitbringt. Der Expeditionsleiter (als Verantwortlicher für die Crew) und der Climbing Sherpa versichern uns jedoch, dass dies für seine Leute kein Problem sei und alle bestens akklimatisiert seien. Auf Empfehlung der beiden verlassen wir also bereits am nächsten Tag die liebliche Wiesen- und Seenlandschaft von Damodar Kunda und gehen über das Saribung Base Camp („Japanese Camp“) weiter zum High Camp auf 5800 m. Der Weg ist eine abwechslungsreiche Mischung aus leichter Felskletterei, Moränenrücken und Gletscherpassagen. Die Nacht über schneit es leicht und am nächsten Morgen ist unser gesamtes Camp wieder von einer dicken Eisschicht überzogen. Bei bestem Wetter und wolkenlosem Himmel machen wir uns auf, den Gletscheranstieg zum Saribung-Pass (6030 m) in Angriff zu nehmen. Die Schneebedingungen sind – auch wieder typisch für den Himalaya – diesmal schwierig und stellenweise recht knifflig. Der Neuschnee der letzten Tage hat den Gletscher stark eingeschneit, zugleich haben die tiefen Temperaturen dazu geführt, dass der Schnee sich nicht gesetzt hat, sondern locker über den Spalten liegt. Dementsprechend mühsam ist das Spuren und entsprechend häufig brechen wir in Gletscherspalten ein. Auch Gudrun denkt sich, warum soll sie den Spass nur anderen überlassen und macht eifrig beim Himalaya-Gletscherspaltenspiel mit. Obwohl wir in den vergangenen Tagen immer wieder nachgefragt haben, ob die Träger auch wirklich über die notwendige Ausrüstung verfügen und uns dies vom Expeditionsleiter jedesmal wieder aufs Neue versichert worden ist, stellen wir nun mit Entsetzen fest, dass die Träger weder Steigeisen noch Gurte zum Anseilen dabei haben. Dementsprechend langsam kommen wir voran, da wir die Träger einzeln über die Spaltenzonen bringen müssen. Am späten Vormittag erreichen wir den Saribung-Pass und geniessen erst einmal das Rundum-Panorama, das von Tibet und Mustang über das Annapurna-Massiv bis zum Dhaulaghiri reicht.
Die Träger sind vom Aufstieg auf den Pass stark erschöpft, so dass der Expeditionsleiter vorschlägt, das Camp aufzubauen und eine Nacht oben am Pass zu verbringen. Wir sind einerseits nicht sehr begeistert davon, auf einer Höhe von über 6000 Metern zu übernachten, auf der anderen Seite gibt uns das die Möglichkeit, den Saribung Peak am nächsten Morgen in Angriff zu nehmen. Morgens ist das Wetter in der Regel besser als später am Tag. Wir verbringen den Nachmittag mit der Wegerkundung auf den Gipfel und als Wolken und Nebel den Pass dicht verhüllen, machen wir es uns in unserem Zelt gemütlich.
Am nächsten Morgen starten wir bereits um 5 Uhr wiederum bei bestem Wetter und Sonne den Gipfelanstieg und stehen gegen 7 Uhr auf dem Gipfel des Saribung Peak (6345 m). Es ist sonnig, windstill und für die Höhe relativ warm. Wir geniessen den fantastischen Blick und machen ein paar Fotos und Videos, bevor wir uns an den kurzen Abstieg zum Pass machen. Kurz nach 8 Uhr sind wir wieder unten am Pass. Eigentlich hatten wir auf ein Frühstück gehofft, doch die Träger haben inzwischen die Ausrüstung gepackt und sind abmarschbereit. Wir müssen feststellen, dass ein Grossteil der Träger in ziemlich schlechter Verfassung ist. Einige sind akut höhenkrank, andere haben Erfrierungen an den Füssen. Anscheinend haben sie die Nacht auf über 6000 m, anders als erwartet, doch nicht so gut vertragen. Dies zusammen mit anderen negativen Faktoren, sollte den Abstieg zum Fiasko werden lassen. Doch der Reihe nach…
Zusammen mit dem Climbing Sherpa suchen wir nach einem Weg, um die Träger sicher durch den im oberen Teil mit verdeckten Spalten durchzogenen Gletscher zu bringen. Dabei achten wir darauf, eine möglichst gute Spur zu legen. Allerdings erscheint uns die vom Climbing Sherpa gewählte Route alles andere als logisch. Uns fällt auf, dass der Climbing Sherpa genauso wie der Expeditionsleiter sehr oft miteinander diskutieren. Wie sich herausstellt, haben beide keine Ahnung, wo die richtige Abstiegsroute verläuft, ob wir uns eher rechts oder links des Gletschers halten müssen und über welchen Eisrücken wir auf dem steil nach unten gehenden Gletscher das südliche Base Camp erreichen können. Angesichts der Dimensionen eines Himalaya-Gletschers sind das ziemlich schlechte Voraussetzungen für einen sicheren Abstieg. Entgegen unserer Empfehlung beschliesst der Climbing Sherpa die gesamte Crew steil nach unten zu führen. Wir legen Fixseile, um die Träger auf dem teilweise blanken Eis zu sichern. Uns wäre es lieber, wenn wir statt steil die Eisflanke hinunter zu gehen, eher auf dem flachen benachbarten Schneerücken blieben, um uns so einen Überblick über die mögliche Route verschaffen zu können. Doch der Expeditionsleiter will aufgrund des schlechten Gesundheitszustands einiger der Träger, so schnell wie möglich Höhe reduzieren. Als wir die Route versichert haben und uns die ersten Träger entgegen kommen, trifft uns fast der Schlag. Die Träger haben die gesamte überlebenswichtige Ausrüstung wie Zelte, Kocher, Wasser, Essen oben am Berg gelassen, um schneller runter zu kommen. Ohne Ausrüstung sind wir auf dieser Höhe als Gruppe maximal 24 Stunden überlebensfähig. Als der vom Climbing Sherpa vorgeschlagene Weg die gesamte Gruppe auch noch direkt an den Rand eines senkrechten Eisfalls führt, der in einen ca. 300 m steilen Felsabbruch mündet, ist das Disaster komplett. Wir stecken in einer Sackgasse. Niemand kennt den Weg, die Ausrüstung liegt oberhalb am Berg, die Träger sind krank oder erschöpft und keiner von ihnen hat Steigeisen oder einen Klettergurt dabei, so dass wir keine Chance haben, die Träger über die steile Eisflanke wieder aus der Sackgasse herauszuführen. In diesem Moment wird uns klar, dass die Situation ausser Kontrolle geraten ist.
Es wäre ein Leichtes für uns und die Climbing-Guides, die Eisflanke wieder nach oben zu steigen, nach dem richtigen Weg zu suchen oder gar abzusteigen. Aber dann müssten wir die Träger für mindestens eine weitere Nacht ohne Ausrüstung am Berg zurücklassen und das würde für einige von ihnen den sicheren Tod bedeuten. Mit am Berg zu bleiben bringt aber auch uns in Gefahr, weil sich die Situation aufgrund der oben am Berg zurückgelassenen lebenswichtigen Ausrüstung nicht verbessert, sondern sich nur verschlechtert (kein Wasser, keine Zelte, etc.).
Der Climbing Sherpa schlägt ein paar Alternativen vor, die man aus alpinistischer Sicht nicht anders als schwachsinnig bezeichnen kann und die wir deshalb vehement ablehnen – zum Beispiel 400 Meter senkrechtes Abseilen durch einen Eisbruch mit nur 50 m Seil und 20 Personen. Egal wie wir es drehen und wenden, das Risiko ist nicht vertretbar. Nachdem Climbing Guide und Expeditionsleiter ratlos sind, übernehmen wir die Führung und leiten Rettungsmassnahmen ein. Durch Zufall, einem Bauchgefühl folgend, haben wir vor drei Wochen in Kathmandu noch darauf bestanden, dass wir ein Satellitentelefon mitbekommen, obwohl dies der Expeditionsanbieter nicht vorgesehen hatte. Dieses Bauchgefühl ist jetzt die Rettung für die die gesamte Gruppe. Wir informieren die Expeditions-Agentur in Kathmandu und rufen die Hubschrauber-Rettung.
Die übliche nachmittags aufziehende dichte Bewölkung und der beginnende starke Wind lassen bei uns allerdings Zweifel aufkommen, ob ein Hubschrauber heute überhaupt noch in dieser Höhe fliegen kann. Wir schätzen, dass wir noch immer ca. 5700 Meter hoch sind. Als der Nebel zu dicht wird, ist zumindest uns beiden relativ schnell klar, dass wir die Nacht vermutlich in einer Schneehöhle verbringen werden. Tatsächlich hören wir schon bald darauf einen Hubschrauber, doch dieser ist meilenweit weg und sieht uns aufgrund der Wolkenfelder gar nicht. Entsprechend schnell trifft der Pilot, mit dem wir über das Satellitentelefon in Kontakt stehen, die Entscheidung, die Rettungsaktion für diesen Tag abzubrechen und erst am nächsten Morgen wieder zu starten.
Während einer der Guides im Alleingang zu unserer Ausrüstung aufsteigt und einzelne Zeltplanen über den Steilhang nach unten bringt, versuchen wir den Trägern zu erklären, dass sie sich für das anstehende Biwak Schneehöhlen graben müssen, die wir dann mit den Planen zudecken. Doch weder der Expeditionsleiter, noch der Climbing Sherpa oder die Träger machen Anstalten, irgendwie aktiv zu werden. Wir graben unser eigenes Biwak und erst als unser Biwak fertig ist, kommt ganz langsam Bewegung in die Truppe und sie fangen an, sich ebenfalls für die Nacht einzurichten. An Schlaf ist allerdings nur bedingt zu denken. Die Wasservorräte sind längst aufgebraucht und das letzte Essen gab es vor über 24 Stunden. Schulter an Schulter sitzen wir in unserem Biwak, wärmen uns gegenseitig und hoffen, dass der in der Nacht einsetzende, leichte Schneefall rechtzeitig vor dem Morgengrauen aufhört.
Als wir am nächsten Morgen die Zeltplane lüften, schauen wir in einen strahlend blauen Himmel. Es ist kurz nach sieben Uhr, als wir den Hubschrauber hören. Dieses Mal findet uns der Pilot sofort, signalisiert uns jedoch, dass er auf dem steilen Hang nicht landen kann und fliegt wieder davon. Wir beginnen daraufhin, eine ebene Fläche als Helipad zu graben, deren Nutzung sich jedoch aufgrund plötzlicher Windböen als zu riskant für den Hubschrauber erweist. Als der Hubschrauber zurückkehrt, sehen wir schon von weitem die Longline, ein ca. 50 Meter langes Seil unter dem Hubschrauber, in das man sich einhängt. Da wir beide als einzige (!) unsere Klettergurte anhaben, sind wir als erste an der Reihe. Am unteren Ende der Longline hängen zwei Karabiner, die man am Klettergurt befestigt. Ganz sanft steigt der Hubschrauber höher, es gibt nicht mal einen Ruck, als die Füsse vom Schnee abheben. Nach den ersten Sekunden freien Schwebens über dem Abgrund, bleibt genug Zeit, um das umliegende Bergpanorama zu bewundern – aus einer ganz neuen Perspektive. So also geht es den Schweizer Kühen, wenn sie an der Longline von der Alp ins Tal geflogen werden …
Der logistische Aufwand für die Hubschrauberrettung ist enorm. Aufgrund der Treibstoffknappheit im Land muss der Treibstoff für den Rettungshubschrauber mit einem zweiten Hubschrauber aus Kathmandu zu einem Zwischenlandeplatz geflogen werden. Der Rettungshubschrauber wurde komplett leer geräumt, das heisst, Sitze, Türen usw. wurden ausgebaut, um Gewicht zu sparen. Nur so ist ein Rettungsflug in dieser Höhe überhaupt möglich.
Am frühen Morgen hatten wir die Träger noch der Reihenfolge nach so eingeteilt, dass die Krankesten zuerst ausgeflogen werden sollten. Erst nach den Trägern sollten die Climbing Sherpas und zum Schluss der Expeditionsleiter folgen. Doch die Mühe hätten wir uns sparen können. Der Expeditionsleiter und die Climbing-Sherpas lassen sich noch vor den kranken Trägern vom Berg holen und auch gleich in den nächsten Ort, nach Phu, fliegen.
In der Zwischenzeit wird die gesamte Expeditionsmannschaft einer nach dem anderen in das südliche Basislager auf ca. 5000 Meter Höhe geflogen. Wir nehmen jeden einzeln in Empfang und sorgen für die Erstversorgung der Kranken. Der zweite Hubschrauber bringt sie dann nach Phu, das auf ca. 4000 Meter liegt. Die gesamte Bergung dauert fast 5 Stunden. Nachdem alle vom Berg runter und nach Phu transportiert worden sind, sammeln wir noch die restliche Ausrüstung am Basislager ein und fliegen dann als Letzte auch nach Phu, diesmal zwar im Inneren des Hubschraubers, allerdings in dem Hubschrauber ohne Sitze und ohne Türen – und übrigens auch ohne Haltegriffe. In der (nicht vorhandenen) offenen Tür sitzend, die Kufe direkt unter uns, werden wir auf dem Flug nach Phu vom einsetzenden Wind hin und her geschüttelt.
Das Naar-Phu-Tal ist ein tibetisch geprägtes, sehr abgelegenes Hochtal nördlich des Annapurna-Gebiets. Ähnlich dem tibetischen Hochplateau ist die Landschaft von sehr trockener, fast wüstenartiger Steinwüste geprägt. Die Bevölkerung im Tal lebt primär von Landwirtschaft und dem wenigen, das sie der Wüste abtrotzen können. Erst kurz vor Koto, wo das Naar-Phu-Tal auf das Marsyangdi-Tal trifft (nördlicher Annapurna-Circuit) nimmt die Vegetation wieder zu, es wachsen Pinienwälder und weiter unten im Tal wird die Vegetation sogar subtropisch.
Die Agentur in Kathmandu besteht darauf, dass wir (aus versicherungstechnischen Gründen) direkt nach Kathmandu zurückkehren, so dass wir schweren Herzens auf die geplanten letzten beiden Tage unseres Treks verzichten. Am Flughafen in Kathmandu wartet schon ein Krankenwagen auf uns und bringt uns – fast schon gegen unseren Willen – ins Krankenhaus. Ausser etwas zu Trinken und zu Essen fehlt uns nichts. Entsprechend schnell und einfach geht auch die Diagnose. Wie fast überall in Asien (wir kennen das aus anderen Ländern) müssen wir 24 Stunden im Krankenhaus bleiben, um alle Tests und Abklärungen zu machen, die alle letztendlich zu dem Ergebnis „gesund“ führen. Wir nutzen die Zeit, um uns einmal quer durch die indische Speisekarte zu essen.
Auch die übrige Expeditionscrew wurde übrigens im Krankenhaus untersucht und behandelt. Die meisten der Träger haben sich recht schnell wieder erholt, nachdem sie auf niedrigerer Höhe waren. Und auch die drei schwerer erkrankten Träger konnten im Laufe der nächsten Tage das Krankenhaus wieder verlassen.
Im "Himalayan" und in der "Kathmandu Post" erscheinen Artikel über die Bergrettung. Es ist von einem Schneesturm die Rede. Darauf angesprochen, ringt sich der Agentur-Chef ein schiefes Lächeln ab und erklärt uns, dass die nepalesische Versicherung die Kosten für die Rettung der einheimischen Träger und Climbing Sherpas nur übernimmt, wenn die Rettung aufgrund schlechten Wetters notwendig war und sie deshalb eine Geschichte erfunden haben. Auch in den deutschen Zeitungen wird über die Rettung berichtet:
Es gab aber keinen Sturm und das Wetter hätte gar nicht besser sein können. Die Rettungsaktion war aus vier Gründen notwendig: die Träger hatten keine Steigeisen und keine Gurte dabei, einige der Träger waren in sehr schlechter körperlicher Verfassung, die Träger haben im Abstieg die komplette Ausrüstung aufgegeben und der Climbing Sherpa kannte den Weg nicht und hat die Gruppe in eine Sackgasse geführt. Wir tragen die erlogene Geschichte nicht mit und bestätigen diese nirgendwo gegenüber offiziellen Stellen oder bei der Befragung durch die nepalesischen Unfall-Unterschungs-Inspektoren. Auch unserer heimischen Versicherung gegenüber, mit der wir in den nächsten Tagen noch sehr oft telefonieren werden, erzählen wir die Wahrheit. Noch ahnen wir nicht, welche Ausmasse die ganze Geschichte noch annehmen wird und welche bösen Überraschungen noch auf uns warten.
Wieder raus aus dem Krankenhaus, gehen wir zuerst einmal einkaufen. Nachdem die Träger ja nicht nur die Koch- und Campingausrüstung, sondern auch unsere persönliche Ausrüstung auf dem Berg zurückgelassen haben, fehlen uns nun ein paar wichtige Dinge, die wir ersetzen müssen. Und so kommt es, dass Gudrun sich zum zweiten Mal innerhalb von fünf Wochen die gleiche Trekkinghose kauft. Und auch Tobias findet nach stundenlangem Suchen endlich eine neue Hose, die ihm zumindest bis zum Knöchel reicht.
Da es in Kathmandu mittlerweile drückend heiss geworden ist, beschliessen wir, wie geplant nach Pokhara zu reisen, um dort ein paar Tage zur Entspannung am See zu verbringen.
Pokhara
Pokhara ist nicht nur Ziel vieler ausländischer Touristen, auch die wohlhabenden Nepalesen aus Kathmandu kommen hierher, um der Sommerhitze der Hauptstadt zu entfliehen. Das Seeufer ist eine einzige Hotel-, Restaurant- und Souvenirladen-Meile. Ab 16 Uhr ist Happy Hour. Ab 18 Uhr gibt´s Live-Musik. Um 22 Uhr werden die Gehsteige hochgeklappt. Auch am Wochenende. Für uns genau das Richtige, um uns zu erholen.
Pokhara ist das Outdoor- und Funsport-Eldorado für die Nepalesen. Auf dem Programm stehen ein- bis siebentägige Rafting-Touren, Tandem-Gleitschirmflüge, der längste Flying Fox vom Berg hinunter ans Seeufer, Mountain-Bike Downhill Fahrten und vieles mehr.
Wir machen nichts von alldem. Wir laufen über Reisfelder und durch Wälder hoch zur Peace-Stupa. Wir fahren mit dem Bus in die Old-Town und besuchen dort den Hindu-Tempel. Auf dem Rückweg geraten wir in eine Prozession – gefeiert wird der Geburtstag Buddhas. Ansonsten verbringen wir unsere Tage gemütlich am Seeufer, bei Apfelkuchen, Frucht-Lassi, Momos und indischen Curries.
Der nahende Monsun kündigt sich inzwischen mit aller Kraft an und hüllt die Berge des Annapurna-Massiv bereits ab dem frühen Morgen in dichte Wolken und Regen. Die Frühjahrs-Bergsaison in Nepal neigt sich ihrem Ende zu. Und auch wir beschliessen wir nach über 45 Tagen Bergsteigen und Trekking die Saison in Nepal für uns zu beenden und weiter zu ziehen. Unser nächstes Ziel heisst Indien. Das Visum für Indien beantragen wir online und erhalten es innerhalb von 24 Stunden. Wir buchen einen Flug nach Delhi und vorher zurück nach Katmandu – denn bevor es nach Indien weitergeht, müssen wir erst noch unser zwischengelagertes Gepäck aus dem Hotel in Kathmandu holen.
In Kathmandu wartet jedoch nicht nur unser Gepäck auf uns, sondern auch der Agentur-Chef. Er ist aufgebracht, weil unsere Krankenversicherung die Kosten für die Hubschrauber-Rettung nach einer Woche noch immer nicht bezahlt hat. Uns wundert das gar nicht. Erstens ist gerade eine Longline-Rettung ja nichts Alltägliches und deshalb dauert die Bearbeitung eben seine Zeit. Zweitens haben wir mit der Versicherung bereits gesprochen und ihr nahegelegt, den geforderten Betrag nicht zu bezahlen. Die Rechnung für uns beide ist so hoch, dass der Verdacht naheliegt, dass hier auch die Kosten für die Rettung der Träger mit eingeflossen sind. Letzteres erzählen wir dem Agentur-Chef natürlich nicht, geben ihm aber schon sehr deutlich zu verstehen, dass die Versicherung die Richtigkeit der Rechnung genau prüfen wird, bevor eine Zahlung erfolgt. Da der Agentur-Chef angeblich persönlich haftet, falls die Versicherung nicht bezahlen würde, ist ihm natürlich daran gelegen, dass das Geld so rasch wie möglich fliesst. Er will nun, dass wir entweder die Versicherung unter Druck setzen oder persönlich die Rechnung bezahlen. Als wir uns weigern, droht er uns zunächst damit, unsere Pässe einzubehalten. Als das auf uns keinen Eindruck macht, erstattet er Anzeige gegen uns bei der Polizei, was dazu führt, dass wir verhaftet werden sobald wir uns dem internationalen Flughafen oder einer Grenze nähern. Offensichtlich will man uns als Druckmittel gegen unsere heimische Versicherung einsetzen und uns daher als „Geiseln“ im Land behalten. Man legt uns nahe, unseren Flug nach Delhi zu verschieben, sozusagen zu unserer eigenen Sicherheit, denn nepalesische Gefängnisse wären ja schliesslich alles andere als angenehm. Aber so schnell lassen wir uns nicht einschüchtern. Wir rufen die Versicherung an und schildern ihnen die aktuelle Situation. Als wir einen Tag vor unserem geplanten Abflug nach Delhi nachts in unserem Hotel massiv bedrängt werden, schalten wir die deutsche Botschaft ein, die uns auf ihrem Gelände erst einmal Schutz gewährt. Nachdem wir unsere Geschichte erzählt haben, fasst die Botschaftsangestellte die Situation mit zwei Worten zusammen: Versicherungsbetrug und Erpressung. Es folgen die Androhung diplomatischer Intervention bei der nepalesischen Regierung wegen dem widerrechtlichen Festhalten von uns im Land und der versuchten Erpressung, es gibt Gespräche dem Agentur-Chef, mit der Hubschrauber-Basis, mit der Polizei und mit der amerikanischen Botschaft, die beratend zur Seite steht. Die Amerikaner wissen nämlich genau, was eine Longline-Rettung in dieser Höhe kosten darf. Und das ist weniger als die Hälfte dessen, was unserer Versicherung ursprünglich in Rechnung gestellt worden ist. Zugleich arbeitet die Botschaft an einem Plan „B“, wie sie uns mittels Airport-Pass und Botschaftsschutz noch am selben Tag sicher ausser Landes bringen können. Jetzt wird die nepalesische Seite plötzlich kleinlaut. Mit jeder Gesprächsrunde schrumpft der Rechnungsbetrag, bis die Kosten plötzlich sogar noch unter den Vergleichswerten der Amerikaner liegen und weit unter der Hälfte der ursprünglichen Kosten. Zum Glück ist unser heimischer Versicherer sehr verständnisvoll und kooperativ. Vielen Dank an dieser Stelle nach Winterthur für die Hilfe und Unterstützung! Unsere Versicherung nennt einen Betrag, den sie bereit ist, zu bezahlen. Die Nepalesen akzeptieren. Wir können ausreisen. Die deutsche Botschaft organisiert uns noch am selben Tag einen Flug nach Delhi. Vielen Dank an die Botschaftsmitarbeiter für den Schutz, die Unterstützung und die Verhandlungen.
Unser Fazit: 8 High Passes (über 5000 Meter Höhe), 6 Fünftausender-Gipfel, 4 Sechstausender, über 600 zurückgelegte Trekking-Kilometer, geschätzte 100 Liter Milchtee und unzählige Kilogramm Dal Baht sind die Bilanz unserer 2 Monate in Nepal. Doch nicht alles lässt sich in Zahlen ausdrücken. Wie immer sind es vor allem auch die vielen Begegnungen mit den Menschen, die verschiedenen Kulturen und Ethnien, die vielfältigen Erlebnisse und Erfahrungen, die für einen bleibenden Eindruck sorgen. Doch leider hat Nepal seine Schattenseiten erst am Ende unseres Aufenthaltes gezeigt und die Absurdität und Korruption im vermeintlich gut organisierten Trekking-Tourismus ans Licht gebracht – und wir denken hier nur an die dutzenden von Permits, Nationalpark-Gebühren, Garbage-Deposits, TIMS-Cards, etc. die es braucht, um als Ausländer in Nepal trekken zu gehen. Noch im Flugzeug, auf dem Weg nach Indien, streicht Tobias einen grossen Teil der ausschliesslich nepalesischen Gipfel von seiner Wunschliste der „noch zu besteigenden Berge“. Als wir über die verschneiten Berge des Himalaya fliegen, sinnieren wir darüber, wie weit westliche Kooperationsbereitschaft gehen sollte.
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Irene+Wolfgang (Samstag, 11 Juni 2016 14:34)
Der erste Teil euerer Expedition liest sich interessant und die Bilder dazu vermitteln einen guten Eindruck dieser kargen Landschaft. Der zweite Teil stellt so manchen Krimi in den Schatten, Gänsehautgefühl inbegriffen. Unfassbar, dass in einem solch beliebten Trekkinggebiet so viel Unvermögen, Leichtsinn und dazu noch kriminelle Abzocke möglich ist. Dank euerer bergsteigerischen Erahrung habt ihr nicht nur euer Leben, auch das der Sherpas gerettet oder die vielen buddhistischen Götter und euer Karma haben mitgeholfen!? Wir wünschen ein glückliches Ende euerer Reise!
Cornelia (Donnerstag, 16 Juni 2016 09:15)
Was für tolle Bilder und was für eine Geschichte! Mir wird schon beim Lesen ganz schlecht. Gott sei Dank seid ihr so erfahren und umsichtig, dass ihr die Situation gemeistert habt und nicht nur euer Leben gerettet habt, sondern auch das Leben derjenigen, die euch in diese Lage gebracht haben. Hut ab vor eurer Leistung!
Weber Birgit (Samstag, 25 Juni 2016 19:37)
Euer Bericht ist grandios, Abenteuer pur! Wir träumen von solchen Erlebnissen und zittern mit bei der Bergrettung Eurer
Crew. Den Mut zu haben, so hoch hinauf in die Berge zu steigen, ist bewundernswert. Weiter so und viel Glück
bei Euren tollen Reisen.
Monika (Mittwoch, 29 Juni 2016 21:16)
Hilfe, das war ja ein Krimi... well done, kann ich nur sagen und dank eurer Weltenbummler-Erfahrung habt ihr auch dies gemeistert! Und... aus der Vergangenheit kann jeder lernen und Tobias kürzt seinen Wunschzettel für Nepal:-). Bin ja sehr froh zu wissen, dass ihr wieder gesund und heil in der Region angekommen seid!!!